Der Dunkle Turm 4 - Glas
Verbitterung, sah sich dabei aber ständig mit verstohlenen Blicken um, ob sie auch nicht beobachtet wurden. Jonas hatte gesehen, wie Kojoten und wilde Hunde auf dieselbe Weise von ihren stinkenden Mahlzeiten aufgesehen hatten. Er ließ sie sich ausweinen, so gut er konnte – er wollte, dass sie sich beruhigte; es würde ihm nichts nützen, wenn sie zusammenhanglos herumstammelte –, und als er sah, dass ihre Tränen nachließen, hielt er ihr eine Tasse Tee hin. »Trinken Sie das.«
»Ja. Danke.« Der Tee war noch so heiß, dass er dampfte, aber sie trank ihn gierig. Ihre alte Kehle muss mit Schiefer ausgekleidet sein, dachte Jonas. Sie stellte die Tasse hin, und während er ihr nachschenkte, wischte sie sich mit ihrem spitzengesäumten pañuelo fast verbissen die Tränen aus dem Gesicht.
»Ich mag ihn nicht«, sagte sie. »Ich mag ihn nicht, und ich traue ihm nicht, keinem von den dreien aus Innerwelt, mit ihren koketten Verbeugungen und ihren anmaßenden Blicken und ihrer seltsamen Sprechweise, aber ihm ganz besonders nicht. Aber falls irgendetwas Ungebührliches zwischen den beiden passiert ist (und ich fürchte, es ist so), dann fällt es auf sie zurück, oder nicht? Immerhin ist es die Frau, nicht wahr, die den tierischen Neigungen widerstehen muss.«
Er beugte sich über den Tisch und sah sie voll aufrichtigen Mitgefühls an. »Erzählen Sie mir alles, Cordelia.«
Und das tat sie.
4
Rhea mochte eigentlich alles an der Glaskugel, aber was ihr besonders daran gefiel, war die Tatsache, dass sie die Menschen unfehlbar in ihrer ganzen Niedertracht zeigte. Kein einziges Mal hatte Rhea in den rosa Tiefen ein Kind gesehen, das ein anderes nach einem Sturz tröstete, einen müden Mann, der den Kopf in den Schoß seiner Frau gebettet hatte, oder alte Leute, die am Ende eines langen Tages friedlich zusammen aßen; das alles, schien es, barg für die Glaskugel ebenso wenig Interesse wie für Rhea selbst.
Stattdessen hatte sie Inzest gesehen, Mütter, die ihre Kinder, Ehemänner, die ihre Frauen schlugen. Sie hatte eine Bande Jungen westlich der Stadt gesehen (Rhea wäre amüsiert gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass diese großspurigen Achtjährigen sich die Großen Sargjäger nannten), die streunende Hunde mit einem Knochen anlockten und ihnen dann aus Jux und Tollerei die Schwänze abschnitten. Sie hatte Einbrüche und mindestens einen Mord gesehen: Ein Wanderer hatte seinen Gefährten im Streit um eine unbedeutende Kleinigkeit mit einer Heugabel erstochen. Das war in der ersten Nacht des Nieselregens gewesen. Die Leiche lag immer noch verwesend in einem Graben der Großen Straße nach Westen, mit einer Schicht Stroh und Unkraut bedeckt. Vielleicht wurde sie entdeckt, bevor die Herbstunwetter ein weiteres Jahr ertränkten; vielleicht auch nicht.
Sie sah auch, dass Cordelia Delgado und das Raubein Jonas im Green Heart an einem der Tische im Freien saßen und sich unterhielten… worüber, nun, das wusste sie natürlich nicht, nein. Aber sie sah den Ausdruck in den Augen der alten Jungfer. Verknallt in ihn, das war sie, und ganz rosa im Gesicht. Völlig in Hitze und außer sich wegen eines Heckenschützen und gescheiterten Revolvermanns. Das war komisch, aye, und Rhea überlegte sich, von nun an ab und zu auch ein Auge auf die beiden zu werfen. Sähr unterhaltsam würde das wahrscheinlich sein.
Nachdem die Glaskugel ihr Cordelia und Jonas gezeigt hatte, hüllte sie sich wieder in Schleier. Rhea legte sie in die Kiste mit dem Auge am Schloss zurück. Als sie Cordelia in dem Glas gesehen hatte, war ihr eingefallen, dass sie ja noch ein Hühnchen mit Cordelias verbuhlter Nichte zu rupfen hatte. Dass Rhea das noch nicht erledigt hatte, war komisch, aber verständlich – kaum hatte sie gewusst, wie sie der jungen Sai am Zeug flicken konnte, hatten sich Rheas Geist und ihre Gefühle wieder so weit beruhigt, dass die Bilder in der Glaskugel erneut zum Vorschein kamen, und in ihrer Faszination darüber hatte Rhea vorübergehend vergessen, dass Susan Delgado überhaupt existierte. Nun jedoch erinnerte sie sich wieder an ihren Plan. Die Katze in den Taubenschlag setzen. Und da sie gerade von Katzen sprach…
»Musty! Juhu, Musty, wo steckst du?«
Die Katze kam aus dem Holzstapel geschlichen, und ihre Augen leuchteten im schmutzigen Dunkel der Hütte (als das Wetter wieder schöner wurde, hatte Rhea die Läden geschlossen). Sie wedelte mit dem geteilten Schwanz und sprang auf Rheas Schoß.
»Ich habe eine
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