Der Dunkle Turm 4 - Glas
erste, abgesehen von einigen wenigen auf Seafront, das Jonas sah, seit er nach Mejis gekommen war. Er schlug es auf. In einer geschwungenen Frauenhandschrift stand da: Meinem teuersten Sohn, von seiner liebenden MUTTER. Jonas riss diese Seite heraus, öffnete die Farbdose und steckte die Spitzen von Ring- und kleinem Finger hinein. Er strich das Wort Mutter mit der Kuppe des Ringfingers aus und benutzte dann den Nagel des kleinen Fingers als behelfsmäßige Feder, um FOTZE über MUTTER zu schreiben. Das Blatt steckte er an einem rostigen Nagel fest, wo sie es gar nicht übersehen konnten, danach zerriss er das Buch und trampelte auf den Fetzen herum. Welchem Jungen hatte es gehört? Er hoffte, dass es eines von Dearborn gewesen war, aber eigentlich spielte es keine Rolle.
Als Jonas das Haus betrat, bemerkte er als Erstes die Tauben, die in ihren Käfigen gurrten. Er hatte gedacht, dass sie ihre Nachrichten mit einem Heliografen übermitteln würden, aber Tauben! Mann, o Mann! Das war noch viel raffinierter!
»Zu euch komme ich in ein paar Minuten«, sagte er. »Habt Geduld, ihr Süßen; pickt und scheißt, solange ihr noch könnt.«
Er sah sich mit einer gewissen Neugier um, während das leise Gurren der Tauben beruhigend in seinen Ohren ertönte. Burschen oder Lords?, hatte Roy den alten Mann in Ritzy gefragt. Der alte Mann hatte gesagt, möglicherweise beides. Immerhin ordentliche Burschen, ihrem Schlafquartier nach zu schließen, dachte Jonas. Wohlerzogen. Drei Betten, alle gemacht. Drei Stapel mit ihren Siebensachen am Fußende von jedem, ebenfalls ordentlich aufgestapelt. In jedem Stapel fand er das Bild einer Mutter – ach, was waren sie für gute Jungs –, und in einem sogar ein Bild beider Eltern. Er hatte auf Namen gehofft, möglicherweise irgendwelche Dokumente (vielleicht sogar Liebesbriefe des Mädchens), fand aber nichts dergleichen. Männer oder Lords, sie waren vorsichtig. Jonas nahm die Bilder aus ihren Rahmen und zerriss sie. Die Vorräte verstreute er in alle Himmelsrichtungen und zerstörte, so viel er in der knappen Zeit konnte. Als er ein Stofftaschentuch in der Tasche einer Ausgehhose fand, schnäuzte er sich hinein und breitete es dann sorgfältig auf den Ausgehstiefeln eines der Jungen aus, damit man den grünen Klumpen deutlich sehen konnte. Was konnte unangenehmer – beunruhigender – sein, als nach einem harten Tag, den man viehzählend verbracht hatte, nach Hause zu kommen und den Rotz eines Fremden auf seinen persönlichen Habseligkeiten zu finden?
Inzwischen waren die Tauben aufgeregt; sie konnten zwar nicht wie Eichelhäher oder Krähen schimpfen, versuchten aber, von ihm wegzuflattern, als er ihre Käfige öffnete. Natürlich nützte es ihnen nichts. Er fing sie eine nach der anderen und drehte ihnen den Hals um. Nachdem er das bewerkstelligt hatte, legte Jonas unter jedes Strohkissen der Jungen einen der Vögel.
Unter einem dieser Kissen fand er dann sogar eine kleine Sonderzulage: Papierstreifen und einen Füllfederhalter, zweifellos um Nachrichten zu schreiben. Er zerbrach den Füller und warf ihn durch das Zimmer. Die Streifen steckte er sich in die Tasche. Papier konnte man immer brauchen.
Nachdem jetzt die Tauben versorgt waren, konnte er besser hören. Er ging bedächtig auf dem Dielenboden entlang, hielt den Kopf schräg und lauschte.
4
Als Alain im Galopp zu ihm geritten kam, achtete Roland nicht auf das angespannte Gesicht und die brennenden, furchtsamen Augen des Jungen. »Ich habe einunddreißig auf meiner Seite«, sagte er, »alle mit dem Brandzeichen der Baronie, Krone und Schild. Und du?«
»Wir müssen zurück«, sagte Alain. »Es stimmt etwas nicht. Es ist die Fühlungnahme. Ich hab es noch nie so deutlich gespürt.«
»Deine Zählung?«, sagte Roland wieder. Es gab Zeiten, so wie jetzt, da fand er Alains Fähigkeit, diese Gabe zu benutzen, eher ärgerlich als hilfreich.
»Vierzig. Oder einundvierzig, hab ich vergessen. Aber was spielt das schon für eine Rolle? Sie haben weggeschafft, was wir nicht zählen sollen. Roland, hast du mich nicht gehört? Wir müssen zurück! Etwas stimmt nicht! Bei uns zu Hause stimmt etwas nicht!«
Roland sah zu Bert, der friedlich etwa fünfhundert Schritte weiter entfernt dahinritt. Als er den Blick wieder Alain zuwendete, hatte er die Augenbrauen zu einer stummen Frage hochgezogen.
»Bert? Er ist taub für die Gabe, schon immer gewesen – das weißt du. Ich bin’s aber nicht. Auch das weißt du! Roland,
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