Der Dunkle Turm 4 - Glas
ihm vor Nervosität erschauerte. »Dank mir noch nicht.«
2
»Ich will da nicht raufgehen, Sai Thorin«, sagte Sheemie. Ein ungewöhnlicher Gesichtsausdruck zog sein sonst so glattes Gesicht in Falten – ein beunruhigtes und ängstliches Stirnrunzeln. »Sie ist eine schreckliche Lady. So schrecklich wie ein Stinkfisch, das ist sie. Hat eine Warze auf der Nase, genau hier.« Er zeigte mit dem Daumen auf die eigene Nase, die klein und glatt und wohlgeformt war.
Coral, die ihm für solche Widerworte gestern noch den Kopf abgerissen hätte, zeigte sich heute ungewöhnlich geduldig. »Das mag sein«, sagte sie. »Aber, Sheemie, sie hat eigens nach dir gefragt, und sie gibt Trinkgeld. Du weißt, dass sie das tut, und nicht wenig.«
»Wird mir nix nützen, wenn sie mich in einen Käfer verwandelt«, sagte Sheemie verdrossen. »Käfer können keine Pennys ausgeben.«
Dennoch ließ er sich zu der Stelle führen, wo Caprichoso, der Lastesel des Saloons, festgebunden war. Barkie hatte zwei kleine Fässer auf den Rücken des Esels geschnallt. Eines war mit Sand gefüllt und diente nur als Gegengewicht. Das andere enthielt frisch gepresstes Graf, das Rhea so gerne trank.
»Der Jahrmarkt rückt näher«, sagte Coral strahlend. »Es sind keine drei Wochen mehr.«
»Aye.« Daraufhin sah Sheemie glücklicher aus. Er liebte Jahrmärkte leidenschaftlich – die Lichter, die Kracher, die Tänze, die Spiele, das Gelächter. Wenn Jahrmarkt war, dann waren alle glücklich und niemand sagte ein böses Wort.
»Ein junger Mann mit Pennys in der Tasche wird bestimmt seinen Spaß auf dem Jahrmarkt haben«, sagte Coral.
»Das ist wahr, Sai Thorin.« Sheemie sah aus wie jemand, der gerade eines der Grundprinzipien des Lebens herausgefunden hat. »Aye, wahri-wahr, das ist es.«
Coral drückte Sheemie Caprichosos Zügel in die Hand und legte seine Finger darum. »Eine schöne Reise, Junge. Sei höflich zu der alten Krähe, mach deine beste Verbeugung… und sieh zu, dass du wieder von dem Berg herunter bist, bevor es dunkel wird.«
»Lange vorher, aye«, sagte Sheemie und erschauerte bei dem bloßen Gedanken, nach Einbruch der Dunkelheit noch auf dem Cöos zu sein. »Lange vorher, so sicher wie Brote und Fische.«
»Guter Junge.« Coral sah ihm noch eine Weile hinterher, wie er davonzog, die rosa sombrera inzwischen auf dem Kopf, und den mürrischen Lastesel am Zügel führte. Und als er hinter der Kuppe des ersten flachen Hügels verschwunden war, sagte sie es noch einmal: »Guter Junge.«
3
Jonas wartete bäuchlings im hohen Gras auf der Flanke eines Hügels, bis eine Stunde verstrichen war, seit die Bengel die Bar K Ranch verlassen hatten. Dann ritt er auf die Hügelkuppe und sah sie, drei Pünktchen, vier Meilen entfernt auf dem braunen Hang. Auf dem Weg zu ihrer täglichen Pflicht. Kein Anzeichen, dass sie etwas vermuteten. Sie waren schlauer, als er ihnen anfangs zugetraut hatte… aber längst nicht so schlau, wie sie selbst glaubten.
Er ritt bis auf eine Viertelmeile an die Bar K heran – abgesehen von Schlafhaus und Stall war die Ranch eine ausgebrannte Ruine im hellen Sonnenlicht dieses frühherbstlichen Tages – und zurrte sein Pferd in einem Pappelwäldchen fest, das um die Quelle der Ranch herum wuchs. Hier hatten die Jungs etwas Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Jonas nahm die Hosen und Hemden von den niederen Zweigen, warf sie auf einen Haufen, pinkelte darauf und ging dann zu seinem Pferd zurück.
Das Tier stapfte nachdrücklich auf den Boden, als Jonas den Hundeschwanz aus einer der Satteltaschen holte, so als wäre es froh, ihn endlich loszuwerden. Jonas war auch froh, dass er ihn loswurde. Er verbreitete bereits einen unmissverständlichen Geruch. Aus der anderen Satteltasche holte er eine Dose rote Farbe und einen Pinsel. Beides hatte er bei Brian Hookeys ältestem Sohn gekauft, der sich heute um den Mietstall kümmerte. Sai Hookey selbst würde inzwischen zweifellos zum Citgo-Gelände unterwegs sein.
Jonas ging zum Schlafhaus und bemühte sich nicht einmal um Deckung… nicht, dass es hier draußen eine nennenswerte Deckung gegeben hätte. Aber da die Jungs fort waren, gab es auch niemanden, vor dem man sich hätte verstecken müssen.
Einer hatte ein richtiges Buch – Mercers Predigten und Meditationen – auf dem Sitz eines Schaukelstuhls auf der Veranda liegen lassen. Bücher waren etwas außerordentlich Seltenes in Mittwelt, besonders so weit vom Zentrum entfernt. Dies war das
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