Der Dunkle Turm 4 - Glas
und auch gestern Nacht hatte sie mit nichts anderem gerechnet… schon gar nicht gestern Nacht. Sie hatte wach in ihrem luxuriösen Schlafgemach auf Seafront gelegen und sich von einer Seite auf die andere gewälzt, während ihr verschiedene Möglichkeiten – keine davon vielversprechend – durch den Kopf gegangen waren. Das Nachthemd, das sie trug, schob sich immer zu den Hüften hoch und bauschte sich über dem Po. Als sie aufgestanden war, um den Nachttopf zu benutzen, hatte sie das verhasste Ding ausgezogen und es in eine Ecke geworfen, um dann nackt wieder ins Bett zu kriechen.
Dass sie das schwere Seidennachthemd ausgezogen hatte, gab den Ausschlag. Sie fiel fast augenblicklich in einen tiefen Schlaf… und in diesem Fall war fallen genau der richtige Ausdruck: Es war weniger so gewesen, als schliefe sie ein, sondern vielmehr als stürze sie in eine gedankenfreie, traumlose Erdspalte.
Und nun diese störende Stimme. Dieser störende Arm, der sie so fest schüttelte, dass ihr Kopf auf dem Kissen von einer Seite auf die andere rollte. Susan versuchte, ihm zu entkommen, indem sie die Knie zur Brust hochzog und nuschelnd Widerworte gab, aber der Arm ließ nicht locker. Das Schütteln wurde fortgesetzt; die quälende, rufende Stimme verstummte nicht.
»Wacht auf, Sai! Wacht auf! Im Namen von Schildkröte und Bär, wacht auf!«
Marias Stimme. Susan hatte sie zuerst nicht erkannt, weil Maria so außer sich war. Susan hatte sie noch nie so gehört und hätte es auch nie erwartet. Und doch war es so; die Zofe schien einem hysterischen Anfall nahe zu sein.
Susan richtete sich auf. Binnen eines Augenblicks wurde sie mit so vielen Einzelheiten bombardiert – und ausnahmslos falschen –, dass sie sich nicht bewegen konnte. Die Daunendecke, unter der sie geschlafen hatte, rutschte ihr zum Schoß und entblößte ihre Brüste, aber sie konnte nichts anderes machen, als mit den Fingerspitzen kraftlos daran zu zupfen.
Das Erste, was falsch war, war das Licht. Es fiel heller als jemals zuvor durch das Fenster herein… weil, wie ihr klar wurde, sie nie zu so später Stunde noch in diesem Zimmer gewesen war. Götter, es musste zehn Uhr sein, vielleicht sogar später.
Das Zweite, was falsch war, waren die Geräusche von unten. Das Haus des Bürgermeisters war am Morgen für gewöhnlich ein Ort des Friedens; bis zur Mittagszeit hörte man kaum etwas, abgesehen von casa vaqueros, die die Pferde zum morgendlichen Auslauf führten, das Wusch-wusch-wusch von Miguel, der den Hof fegte, und das unablässige Donnern und Rauschen der Wellen. Heute Morgen wurde gebrüllt, geflucht, Pferde galoppierten, ab und zu ertönte seltsames, abgerissenes Gelächter. Irgendwo außerhalb ihres Zimmers – wenn auch nicht in diesem Flügel, so doch nicht weit entfernt – hörte Susan das Poltern von Stiefeln im Laufschritt.
Am falschesten aber war Maria selbst, deren Wangen unter der olivenfarbenen Haut aschfahl waren und deren sonst so ordentlich frisiertes Haar heute ungekämmt und verfilzt herunterhing. Susan hätte vermutet, dass nur ein Erdbeben die Zofe in diesen Zustand versetzen konnte, wenn überhaupt.
»Maria, was ist denn?«
»Ihr müsst gehen, Sai. Seafront ist im Augenblick vielleicht nicht sicher für Euch. Euer eigenes Haus vielleicht besser. Als ich Euch vorher nicht gesehen, dachte ich, Ihr schon dort gegangen. Ihr habt Euch schlechten Tag für Ausschlafen ausgesucht.«
»Gehen?«, sagte Susan. Langsam zog sie die Decke bis zu ihrer Nase und sah Maria mit großen, aufgequollenen Augen an. »Was meinst du damit, gehen?«
»Hinten raus.« Maria zupfte Susan die Decke aus den vom Schlaf noch tauben Händen und zog sie diesmal bis zu deren Füßen hinunter. »Wie Sie schon mal gemacht haben. Jetzt, Missy, jetzt! Anziehen und gehen! Diese Jungs eingesperrt, aye, aber wenn sie Freunde haben? Wenn sie wiederkommen und Euch auch töten?«
Susan hatte aufstehen wollen. Nun wurden ihre Beine aber kraftlos, und sie setzte sich wieder auf das Bett. »Jungs?«, flüsterte sie. »Jungs töten wer? Jungs töten wer?«
Das war zwar alles andere als grammatikalisch korrekt, aber Maria verstand sofort, was Susan meinte.
»Dearborn und seine Freunde«, sagte sie.
»Und wen sollen sie getötet haben?«
»Bürgermeister und Kanzler.« Sie sah Susan mit zerstreutem Mitgefühl an. »Jetzt steht auf, sag ich Euch. Und geht. Dieses Haus loco geworden.«
»Das haben sie nicht getan«, sagte Susan und biss sich gerade noch auf die Zunge,
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