Der Dunkle Turm 4 - Glas
ging zum Tisch, wo sie stehen blieb und mit verträumten Augen ins Leere starrte.
»Nein, nicht das schon wieder!«, rief Rhea ungeduldig. Sie sah die eigene schmutzige Hütte nicht mehr, nahm deren widerliche Gerüche genauso wenig wahr wie den eigenen. Sie war dem Regenbogen des Zauberers verfallen. Sie war bei Theresa O’Shyven, deren Haus die saubersten Ecken und Winkel in ganz Mejis hatte. Vielleicht in ganz Mittwelt.
»Beeil dich, Weib!«, schrie Rhea fast. »Mach dich an die Hausarbeit!«
Als hätte Theresa es gehört, knöpfte sie nun ihr Hauskleid auf, zog es aus und hängte es ordentlich über einen Stuhl. Sie zog den Saum ihres sauberen, geplätteten Unterrocks über die Knie, ging in eine Ecke und ließ sich auf alle viere nieder.
»So ist es recht, mein corazón!«, und erstickte fast an einer verschleimten Mischung aus Husten und Gelächter. »Mach jetzt deine Hausarbeit, und mach sie fein ordentlich!«
Theresa O’Shyven reckte den Hals, so lang sie konnte, machte den Mund auf, streckte die Zunge heraus und leckte die Ecke. Sie leckte sie, wie Musty seine Milch aufleckte. Rhea sah zu, schlug sich auf die Knie und johlte; ihr Gesicht wurde immer röter, während sie sich von einer Seite zur anderen wiegte. Oh, Theresa war ihr Liebling, aye! Ohne Zweifel! Sie würde jetzt stundenlang auf Händen und Knien kriechen, den Arsch in die Luft recken, die Ecken auslecken und zu einem obskuren Gott beten – nicht einmal dem Gott des Jesusmenschen –, damit er ihr vergab, wofür auch immer sie diese Buße auf sich nahm. Manchmal bekam sie Splitter in die Zunge und musste Blut ins Spülbecken in der Küche spucken. Bis jetzt hatte ein sechster Sinn immer dafür gesorgt, dass sie aufstand und sich wieder anzog, bevor jemand ihrer Angehörigen zurückkam, aber Rhea wusste, früher oder später würde die Besessenheit der Frau sie zu weit treiben, und sie würde ertappt werden. Vielleicht war heute der große Tag – vielleicht kam das kleine Mädchen früher zurück, um sich eine Münze zu holen, die es in der Stadt ausgeben konnte, und fand ihre Mutter auf den Knien, wie sie die Ecken sauber leckte. Oh, was für ein Knüller! Das wollte Rhea auf gar keinen Fall versäumen! Wie sehnte sie sich doch danach…
Plötzlich war Theresa O’Shyven verschwunden. Das Innere ihres keimfreien kleinen Hauses war verschwunden. Alles war verschwunden, in Vorhängen wabernden rosa Lichts verschwunden. Zum ersten Mal seit Wochen war das Glas des Zauberers erloschen.
Rhea hob die Kugel mit ihren knochigen Fingern und langen Fingernägeln hoch und schüttelte sie. »Was ist los mit dir, du verseuchtes Ding! Was ist los?«
Die Kugel war schwer, und Rheas Kräfte ließen nach. Nach zwei- oder dreimaligem heftigem Schütteln rutschte die Kugel in ihrem Griff. Rhea drückte sie zitternd an die schlaffen Überreste ihrer Brüste.
»Nein, nein, Liebes«, gurrte sie. »Komm zurück, wenn du bereit bist, aye, Rhea hat nur ein bisschen die Beherrschung verloren, aber jetzt hat sie sie wiedergefunden, sie wollte dich nicht schütteln, und sie würde dich auch niemals fallen lassen, also sei einfach…«
Sie verstummte, legte den Kopf schräg und horchte. Pferde kamen näher. Nein, sie kamen nicht näher; sie waren schon da. Drei Reiter, wie es sich anhörte. Hatten sich angeschlichen, während sie abgelenkt gewesen war.
Die Jungs? Diese abscheulichen Jungs?
Rhea drückte die Kugel mit aufgerissenen Augen und feuchten Lippen an ihren Busen. Ihre Hände waren so dünn, dass das rosa Leuchten der Kugel durch sie hindurchschien und schwach die dunklen Speichen ihrer Knochen beleuchtete.
»Rhea! Rhea vom Cöos!«
Nein, nicht die Jungs.
»Komm heraus, und bring mit, was dir anvertraut wurde!«
Schlimmer.
»Farson will sein Eigentum zurück! Wir sind gekommen, um es zu holen!«
Nicht die Jungs, sondern die Großen Sargjäger.
»Niemals, du dreckiger, weißhaariger alter Schwanz«, flüsterte sie. »Du wirst sie nie bekommen.« Sie ließ die Augen mit raschen Blicken von einer Seite zur anderen gleiten. Mit ihrem verfilzten Haar und dem bebenden Mund sah sie wie ein kranker Kojote aus, der in ein auswegloses trockenes Bachbett gejagt worden war.
Sie betrachtete die Kugel und stieß ein klägliches Wimmern aus. Jetzt war sogar das rosa Leuchten verschwunden. Die Kugel war so dunkel wie der Augapfel eines Toten.
10
Ein Schrei ertönte aus der Hütte.
Depape drehte sich mit geweiteten Augen zu Jonas um, seine Haut
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