Der Dunkle Turm 4 - Glas
(»Kalte Hände, warmes Herz«, sagte Tante Cord manchmal). Das wirklich Unangenehme war die Beschaffenheit, der Eindruck von kaltem, schwammigem Fleisch, das lose an den Knochen hing, als wäre die Frau, der die Finger gehörten, schon vor langer Zeit ertrunken und hätte in einem Teich gelegen.
»Nay, nay, es gibt keinen Neuanfang«, sagte die alte Frau, »aber vielleicht geht es besser weiter, als es angefangen hat. Du hast in dem Bürgermeister einen mächtigen Freund, den ich mir ungern zum Feind machen möchte.«
Wenigstens ist sie ehrlich, dachte Susan, doch dann musste sie über sich selbst lachen. Diese Frau würde nur dann ehrlich sein, wenn es unumstößlich notwendig war; ihren eigenen Machenschaften und Begierden überlassen, würde sie einfach in jeder Hinsicht lügen – was das Wetter, das Getreide, den Flug der Vögel zur Erntezeit betraf.
»Du bist früher gekommen, als ich dich erwartet hatte, und deshalb bin ich gereizt, das bin ich. Hast du mir etwas mitgebracht, Missy? Das hast du, garantiert!« Ihre Augen funkelten wieder, diesmal nicht vor Zorn.
Susan griff unter ihre Schürze (es war so dumm, eine Schürze zu tragen, wenn man einen Ausflug an die Rückseite von Nirgendwo unternahm, aber so verlangte es der Brauch) und in ihre Tasche. Dort befand sich, mit einer Schnur festgebunden, damit er nicht verloren ging (wenn es jungen Mädchen zum Beispiel in den Sinn kam, im Mondschein zu rennen), ein Stoffbeutel. Susan zerriss die Schnur und holte den Beutel heraus. Sie legte ihn auf die ausgestreckte Hand vor ihr, deren Handfläche so verbraucht war, dass die Linien wenig mehr als Geister zu sein schienen. Sie achtete sorgsam darauf, Rhea nicht noch einmal zu berühren… obwohl die alte Frau sie wieder anfassen würde, und zwar schon bald.
»Macht das Geräusch des Windes dich erschauern, Missy?«, fragte Rhea, obwohl Susan sehen konnte, dass das ganze Trachten der Frau dem kleinen Beutel galt; sie war mit den Fingern emsig beschäftigt, die Kordel aufzuknoten.
»Aye, der Wind.«
»So sollte es auch sein. Das sind die Stimmen der Toten, die du im Wind hörst, und wenn sie so schreien, dann liegt es daran, dass sie bedauern – ah!«
Der Knoten ging auf. Rhea lockerte die Kordel und ließ zwei Goldmünzen auf ihre Hand fallen. Sie waren unebenmäßig geprägt und schlicht – seit Generationen hatte niemand mehr solche hergestellt –, aber sie waren schwer, und die eingravierten Adler besaßen eine gewisse Ausdruckskraft. Rhea hob eine zum Mund, zog die Lippen zurück, entblößte abscheuliche Zähne und biss zu. Die Vettel betrachtete die schwachen Abdrücke, die ihre Zähne in dem Gold hinterlassen hatten. Eine kurze Weile sah sie die Münzen entzückt an, dann schloss sie die Finger fest darum.
Während Rheas Aufmerksamkeit von den Münzen abgelenkt war, konnte Susan einen Blick durch die offene Tür ins angrenzende Zimmer werfen, vermutlich das Schlafzimmer der Hexe. Und da sah sie etwas Seltsames und Beunruhigendes: ein Licht unter dem Bett. Ein rosafarbenes, pulsierendes Licht. Es schien aus einer Art Kästchen zu kommen, auch wenn sie nicht recht…
Die Hexe schaute auf, und Susan sah hastig in die Ecke des Zimmers, wo an einem Haken ein Netz mit drei, vier seltsamen weißen Früchten hing. Als sich die alte Frau bewegte und ihr Schatten träge von diesem Teil der Wand wegtanzte, konnte Susan sehen, dass es sich gar nicht um Früchte handelte, sondern um Schädel. Sie verspürte ein Gefühl der Übelkeit in der Magengegend.
»Das Feuer muss neu entfacht werden, Missy. Geh um das Haus herum und hol einen Arm voll Holz. Schöne große Scheite brauchen wir, und fang nicht an zu jammern, dass du sie nicht tragen kannst. Du bist von kräftiger Statur, das bist du!«
Susan, die schon etwa seit der Zeit, als sie nicht mehr in die Windeln machte, nicht mehr über zugewiesene Arbeiten gejammert hatte, sagte nichts… obwohl ihr schon auf der Zunge lag, Rhea zu fragen, ob denn jeder, der ihr Gold bringe, dazu aufgefordert werde, Holz für sie zu schleppen. In Wahrheit machte es ihr nichts aus; nach dem Gestank in der Hütte würde die Luft draußen so lieblich wie Wein schmecken.
Sie war fast an der Tür, als sie mit dem Fuß etwas Warmes und Nachgiebiges berührte. Die Katze miaute. Susan strauchelte und wäre beinahe der Länge nach gestürzt. Hinter ihr stieß die alte Frau eine Reihe von Keuch- und Grunzlauten aus, die Susan schließlich als Gelächter bestimmen konnte.
»Pass auf
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