Der Dunkle Turm 4 - Glas
alten Lieds mehr einfallen würde, das sie seit ihrer frühesten Kindheit sang. Aber der nächste Vers fiel ihr ein, und sie sang weiter und ging weiter:
»Once my cares were far away,
Yes, once my cares were far away,
Now my love has gone from me
And misery is in my heart to stay.«
Möglicherweise ein schlechtes Lied für eine solche Nacht, aber ihr Herz ging seine eigenen Wege und interessierte sich nicht besonders dafür, was ihr Kopf dachte oder wollte; so war es immer gewesen. Sie fürchtete sich davor, bei Mondschein unterwegs zu sein, wenn angeblich Werwölfe umherstreiften, sie fürchtete sich vor ihrem Auftrag und was dieser Auftrag mit sich brachte. Doch als sie Hambry auf der Großen Straße verlassen hatte und ihr Herz verlangte, dass sie rannte, da war sie gerannt – unter dem Licht des Kussmonds und mit über die Knie hochgezogenem Rock war sie galoppiert wie ein Pony, und ihr Schatten war dicht neben ihr galoppiert. Eine Meile oder mehr war sie gelaufen, bis jeder Muskel an ihr kribbelte und die Luft, die sie durch die Kehle sog, wie eine süße, erwärmte Flüssigkeit schmeckte. Und als sie den Hochlandpfad erreichte, der zu diesem höchst unheilvollen Ort führte, hatte sie gesungen. Weil ihr Herz es verlangt hatte. Und, überlegte sie, so eine schlechte Idee war es nicht gewesen; immerhin hatte es zumindest ihre schlimmste Schwermut fern gehalten. Dafür war Singen immer gut.
Nun kam sie zum Ende des Pfades und sang den Refrain von »Careless Love«. Als sie in das spärliche Licht trat, das durch die offene Tür auf die Veranda fiel, sprach eine krächzende Stimme, wie die einer Nebelkrähe, aus dem Schatten sie an: »Hör auf mit dem Geheul, Missy – es bohrt sich in mein Gehirn wie ein Angelhaken!«
Susan, der man ihr ganzes Leben gesagt hatte, dass sie eine angenehme Singstimme besitze, zweifellos von ihrer Großmama geerbt, verstummte sofort fassungslos. Sie stand auf der Veranda und verschränkte die Hände vor der Schürze. Unter der Schürze trug sie ihr zweitbestes Kleid (sie hatte nur zwei). Darunter klopfte ihr Herz heftig.
Eine Katze – ein abscheuliches Ding mit zwei zusätzlichen Beinen, die wie Fleischgabeln aus den Flanken ragten – kam als Erste zur Tür. Die Katze schaute zu ihr auf, schien sie abzuschätzen und verzog dann das Gesicht zu einem Ausdruck, der seltsam menschlich wirkte: Verachtung. Das Tier zischte sie an und verschwand blitzschnell in der Nacht.
Nun, dir auch einen guten Abend, dachte Susan.
Die alte Frau, zu der sie geschickt worden war, trat aus der Tür heraus. Sie betrachtete Susan mit demselben Ausdruck unverhohlener Verachtung von oben bis unten, dann trat sie zurück. »Komm rein. Und vergiss nicht, die Tür fest zuzumachen. Der Wind weht sie immerzu auf, wie du sehen kannst!«
Susan trat ein. Sie wollte sich nicht mit der alten Frau in diesem übel riechenden Zimmer einschließen, aber wenn einem keine Wahl blieb, war Zaudern immer ein Fehler. Das hatte ihr Vater stets gesagt, ob es um das Thema Addieren und Subtrahieren ging oder wie man sich gegenüber Jungs beim Scheunentanz verhielt, wenn deren Hände zu abenteuerlustig wurden. Sie zog die Tür fest zu und hörte sie einrasten.
»Da bist du ja«, sagte die alte Frau und schenkte ihr ein groteskes Willkommenslächeln. Es war ein Lächeln, bei dem selbst tapfere Mädchen an die Geschichten denken mussten, die in der Schule erzählt wurden – Ammenmärchen von alten Frauen mit schiefen Zähnen und blubbernden Kesseln voller froschgrüner Brühe. In diesem Zimmer gab es keinen Kessel über dem Kaminfeuer (noch war das Feuer, nach Susans Meinung, besonders eindrucksvoll), aber das Mädchen vermutete, dass es dereinst einen gegeben hatte, mit Sachen darin, an die man vielleicht lieber nicht dachte. Dass diese Frau eine richtige Hexe war und nicht nur eine alte Frau, die sich für eine ausgab, dessen war Susan seit dem Moment gewiss, als sie Rhea mit der missgebildeten Katze im Schlepptau in die Hütte hatte laufen sehen. Man konnte es fast riechen, so wie den unangenehmen Geruch, der von der Haut der Vettel ausging.
»Aye«, sagte sie lächelnd. Sie versuchte es gut hinzubekommen, strahlend und furchtlos. »Hier bin ich.«
»Und du bist recht früh, mein kleines Liebchen. Früh bist du! Hihi!«
»Ich bin ein Stück gelaufen. Ich schätze, der Mond ist mir ins Blut gefahren. Das hätte mein Da’ gesagt.«
Das Grinsen der alten Frau weitete sich zu etwas, bei dem Susan daran denken
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