Der Dunkle Turm 4 - Glas
rechtzeitig genug, um die Straße verlassen und sich hinter einem Piñon-Baum ausruhen zu können, der ihr gut zupass kam (sie wollte es nicht unbedingt als verstecken bezeichnen). Sie waren zurück in die Stadt geritten, und Susan vermutete, dass sie derzeit im Traveller’s Rest tranken – und zwar bis Stanley Ruiz die Bar zumachte –, aber mit Sicherheit konnte sie es natürlich nicht sagen. Sie könnten durchaus auch zurückkommen.
»Wenn ich es Euch nicht ausreden kann, nun denn«, sagte sie und seufzte voll ergebener Resignation, die sie in Wirklichkeit gar nicht empfand. »Aber nur bis zum ersten Briefkasten – dem von Mrs. Beech. Der steht genau an der Stadtgrenze.«
Er tippte sich wieder an die Kehle und machte wieder diese absurde, bezaubernde Verbeugung – Fuß ausgestreckt, als wollte er jemandem ein Bein stellen, Absatz in den Sand gedrückt. »Danke schön, Miss Delgado!«
Wenigstens hat er mich nicht Sai genannt, dachte sie. Das ist immerhin ein Anfang.
2
Sie dachte, er würde trotz seines Versprechens, still zu sein, wie eine Elster schwatzen, weil Jungen das in ihrer Gegenwart immer taten – sie war ihres Aussehens wegen nicht eitel, fand aber, dass sie tatsächlich gut aussah, und sei es nur, weil die Jungen nicht still sein oder aufhören konnten, mit den Füßen zu scharren, wenn sie sich in deren Nähe befanden. Und dieser hier würde eine Menge Fragen haben, die die Jungen aus der Stadt nicht stellen mussten – wie alt sie sei, ob sie schon immer in Hambry gelebt habe, ob ihre Eltern noch lebten, sowie ein halbes Hundert andere, ebenso langweilige –, aber alle würden auf die eine hinauslaufen: Hatte sie einen festen Begleiter?
Aber Will Dearborn von den Inneren Baronien fragte sie weder nach ihrer Schulausbildung noch Familie, noch Freunden (die gebräuchlichsten Wege, sich an mögliche romantische Rivalen heranzutasten, wie sie festgestellt hatte). Will Dearborn ging einfach an ihrer Seite einher, hatte Rushers Zügel um eine Hand geschlungen und sah nach Osten zum Reinen Meer hinüber. Sie waren ihm so nahe, dass sich der tränentreibende Geruch von Salz mit dem Teergestank des Öls vermischte, obwohl der Wind von Süden wehte.
Sie befanden sich gerade auf der Höhe von Citgo, und sie war froh um Will Dearborns Anwesenheit, auch wenn sein völliges Schweigen ein wenig ärgerlich war. Das Ölfeld mit seinem Skelettwald von Stahlgerüsten war ihr stets etwas unheimlich vorgekommen. Die meisten der Fördertürme hatten das Ölpumpen schon vor langer Zeit eingestellt, und es gab weder die Ersatzteile noch das Wissen, sie zu reparieren, noch bestand allerdings die Notwendigkeit dazu. Und diejenigen, die noch förderten – neunzehn von etwa zweihundert –, konnten nicht abgeschaltet werden. Sie pumpten und pumpten einfach weiter, und die Ölvorräte unter ihnen schienen unerschöpflich zu sein. Ein wenig wurde noch benutzt, aber sehr wenig – das meiste floss einfach zurück in die Quellen unter den kaputten Fördertürmen. Es gab immer weniger Maschinen, die Öl verbrauchten, und mit jedem Jahr wurden es noch weniger. Die Welt hatte sich weiterbewegt, und dieser Ort erinnerte sie an einen seltsamen mechanischen Friedhof, wo einige der Toten nicht ganz…
Etwas Kaltes und Weiches knabberte an ihrem Rücken, und es gelang ihr nicht ganz, einen spitzen Schrei zu unterdrücken. Will Dearborn wirbelte zu ihr herum und griff mit den Händen nach dem Gürtel. Dann entspannte er sich und lächelte.
»Rushers Art, zu sagen, dass er sich vernachlässigt fühlt. Es tut mir Leid, Miss Delgado.«
Sie betrachtete das Pferd. Rusher erwiderte den Blick sanftmütig, dann neigte er den Kopf, so als wollte er sagen, dass es ihm ebenfalls Leid tue, sie erschreckt zu haben.
Albernes Mädchen, dachte sie und hörte die herzliche, sachliche Stimme ihres Vaters. Er will wissen, warum du so reserviert bist, das ist alles. Und ich würde das ebenfalls gern wissen. Sieht dir gar nicht ähnlich, tut es wirklich nicht.
»Mr. Dearborn, ich hab’s mir anders überlegt«, sagte sie. »Ich würde doch gern reiten.«
3
Er wandte ihr den Rücken zu und sah mit den Händen in den Taschen hinüber auf Citgo, während Susan zuerst den Poncho über die Krone des Sattels legte (den schlichten schwarzen Sattel eines arbeitenden Cowboys ohne Baroniebrandzeichen oder auch nur das Abzeichen einer Ranch) und dann in den Steigbügel stieg. Sie hob den Rock und drehte sich unvermittelt um, weil
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