Der Dunkle Turm 4 - Glas
mögen Eure Tage auf Erden lang sein.«
Sie drehte sich um und dachte: Und wenn es nun einer der Männer ist, die neuerdings ständig im Haus des Bürgermeisters oder im Traveller’s Rest herumhängen? Nicht der Älteste von denen, so zittrig ist seine Stimme nicht, aber möglicherweise einer der anderen…Es könnte derjenige sein, den sie Depape nennen…
»Einen guten Abend«, hörte sie sich zu dem Männerumriss auf dem großen Pferd sagen. »Mögen Eure ebenfalls lang sein.«
Ihre Stimme bebte nicht, jedenfalls konnte sie es nicht heraushören. Sie glaubte nicht, dass es Depape war, auch nicht derjenige namens Reynolds. Sie konnte nur eines mit Sicherheit über den Mann sagen, nämlich dass er einen Hut mit flacher Krempe trug, die sie stets mit den Männern in den Inneren Baronien in Verbindung gebracht hatte, als Reisen zwischen Ost und West noch verbreiteter gewesen waren als heute. Damals, bevor John Farson – der Gute Mann – kam und das Blutvergießen begann.
Als der Fremde an ihre Seite ritt, sah sie sich ein wenig nach, dass sie ihn nicht gehört hatte – sie konnte keine Gürtelschnalle oder Glocke an seiner Ausrüstung sehen, und alles war festgezurrt, damit es nicht flatterte oder klatschte. Es sah fast aus wie das Zaumzeug eines Gesetzlosen oder Verwüsters (sie hatte eine Ahnung, als könnten Jonas mit der zittrigen Stimme und seine beiden Freunde in anderen Zeiten und an anderen Orten beides gewesen sein) oder sogar eines Revolvermanns. Aber dieser Mann trug keine Waffen, es sei denn, sie wären verborgen gewesen. Ein Bogen am Knauf seines Sattels und eine Art Lanze in einer Scheide, das war alles. Und es hatte auch nie, überlegte sie sich, einen so jungen Revolvermann gegeben.
Er schnalzte dem Pferd seitlich aus dem Mund etwas zu, wie ihr Da’ es immer getan hatte (und wie sie es selbstverständlich auch tat), und es blieb augenblicklich stehen. Als er ein Bein hoch und mit unbewusster Anmut über den Sattel schwang, sagte Susan: »Nay, nay, Fremder, macht Euch keine Umstände, sondern geht Eurer Wege!«
Falls er den erschrockenen Ton ihrer Stimme hörte, schenkte er ihm keine Beachtung. Er ließ sich vom Pferd rutschen, ohne den festgezurrten Steigbügel zu benutzen, und landete unmittelbar vor ihr, sodass der Staub der Straße neben seinen klobigen Stiefeln aufflog. Im Sternenlicht sah sie, dass er wahrhaftig jung war, ungefähr in ihrem Alter. Seine Kleidung war die eines arbeitenden Cowboys, allerdings neu.
»Will Dearborn, zu Euren Diensten«, sagte er, dann zog er den Hut, streckte einen Fuß auf dem Absatz aus und verbeugte sich, wie es in den Inneren Baronien üblich war.
Diese absurde Ritterlichkeit hier draußen, im Nirgendwo, wo der ätzende Geruch des Ölfelds am Stadtrand schon in ihre Nasenlöcher drang, befreite sie von ihrer Furcht und brachte sie zum Lachen. Sie nahm an, dass es ihn wahrscheinlich beleidigen würde, aber stattdessen lächelte er. Ein gutes Lächeln, ehrlich und ungekünstelt, bei dem man ebenmäßige Zähne erkennen konnte.
Sie machte einen Knicks und hielt dabei eine Seite ihres Kleides hoch. »Susan Delgado, zu Euren Diensten.«
Er klopfte sich dreimal mit der rechten Hand an die Kehle. »Danke-sai, Susan Delgado. Ich hoffe, unsere Begegnung steht unter einem guten Stern. Ich wollte Euch nicht erschrecken…«
»Doch das habt Ihr ein wenig.«
»Ja, ich dachte es mir. Es tut mir Leid.«
Ja. Nicht aye, sondern ja . Ein junger Mann aus den Inneren Baronien, wie es sich anhörte. Sie sah ihn mit neu erwachtem Interesse an.
»Nay, Ihr müsst Euch nicht entschuldigen, war ich doch tief in Gedanken«, sagte sie. »Ich war eine… Freundin… besuchen und hatte nicht gemerkt, wie viel Zeit vergangen war, bis der Mond unterging. Falls Ihr aus Sorge angehalten habt, danke ich Euch, Fremder, aber Ihr solltet Eures Weges ziehen und ich meines. Ich muss nur noch zum Rand des Dorfes gehen – Hambry. Das ist nicht mehr weit.«
»Hübsch gesagt und reizend ausgedrückt«, antwortete er mit einem Grinsen, »aber es ist spät, Ihr seid allein, und ich finde, wir können auch gemeinsam weitergehen. Reitet Ihr, Sai?«
»Aye, aber im Ernst…«
»Dann kommt näher und lernt meinen Freund Rusher kennen. Er wird Euch die letzten beiden Meilen tragen. Er ist ein Wallach, Sai, und die Sanftmut in Person.«
Sie sah Will Dearborn mit einer Mischung aus Heiterkeit und Verärgerung an. Ein Gedanke ging ihr durch den Kopf: Wenn er mich noch einmal Sai nennt, als
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