Der Dunkle Turm 4 - Glas
sie sich sicher war, dass er einen Blick riskieren würde, aber er drehte ihr weiterhin den Rücken zu. Die rostigen Ölbohrtürme schienen ihn zu faszinieren.
Was ist so interessant daran, Freundchen?, dachte sie ein wenig erbost – es lag an der späten Stunde und dem Nachhall ihrer aufgewühlten Gefühle, vermutete sie. Die schmutzigen alten Dinger sind seit sechs Jahrhunderten oder mehr hier, und ich habe ihren Gestank mein ganzes Leben lang gerochen.
»Bleib jetzt ruhig stehen, mein Junge«, sagte sie, als sie den Fuß fest im Steigbügel hatte. Mit einer Hand hielt sie sich oben am Knauf des Sattels fest, in der anderen hatte sie die Zügel. Währenddessen zuckte Rusher mit den Ohren, als wollte er sagen, dass er die ganze Nacht ruhig stehen bleiben werde, sollte sie das von ihm erwarten.
Sie schwang sich hinauf, wobei ein langer nackter Oberschenkel im Licht der Sterne aufblitzte, und spürte das Hochgefühl, das sie zu Pferde stets empfand… nur schien es heute Nacht ein wenig stärker, ein wenig süßer, ein wenig klarer zu sein. Vielleicht, weil das Pferd so ein schönes Tier war; vielleicht, weil das Pferd ein Fremder war…
Vielleicht, weil der Besitzer des Pferdes ein Fremder ist, dachte sie. Und so anmutig.
Das war natürlich Unsinn… potenziell gefährlicher Unsinn obendrein. Und doch traf es auch zu. Er war anmutig.
Als sie den Poncho aufklappte und über ihren Beinen ausbreitete, fing Dearborn an zu pfeifen. Und sie erkannte die Melodie mit einer Mischung aus Überraschung und abergläubischer Furcht: »Careless Love.« Genau das Lied, das sie auf dem Weg zu Rheas Hütte gesungen hatte.
Vielleicht ist es Ka, Mädchen, flüsterte die Stimme ihres Vaters.
Das gibt es nicht, dachte sie zurück. Ich sehe das Ka nicht in jedem Windhauch und jedem Schatten, so wie es die alten Damen immer tun, die sich an einem Sommerabend im Green Heart zusammenfinden. Es ist ein altes Lied; jeder kennt es.
Vielleicht ist es besser, wenn du Recht hast, erwiderte Pat Delgados Stimme. Wenn es nämlich Ka ist, wird es wie ein Sturm daherkommen, und deine Pläne werden ebenso wenig davor bestehen können, wie der Schuppen meines Da’ dem Wirbelsturm standhalten konnte, als dieser kam.
Nicht Ka; sie würde sich nicht von der Dunkelheit und den Schatten und den finsteren Umrissen der Ölbohrtürme verführen lassen, das zu glauben. Nicht Ka, nur eine zufällige Begegnung mit einem netten jungen Mann auf der einsamen Straße zurück in die Stadt.
»Ich habe mich angemessen bedeckt«, sagte sie mit einer trockenen Stimme, die sich nicht sehr nach ihrer eigenen anhörte. »Ihr dürft Euch wieder umdrehen, wenn Ihr mögt, Mr. Dearborn.«
Er drehte sich um und sah sie an. Einen Augenblick lang sagte er nichts, aber sie erkannte an dem Ausdruck in seinen Augen nur zu gut, dass er sie ebenfalls anmutig fand. Und obwohl sie das beunruhigte – vielleicht auch wegen des Liedes, das er gepfiffen hatte –, freute es sie auch. Dann sagte er: »Ihr seht gut da oben aus. Ihr sitzt gut.«
»Und nicht mehr lange, dann werde ich eigene Pferde besitzen, auf denen ich sitzen kann«, sagte sie. Jetzt werden die Fragen kommen, dachte sie.
Aber er nickte nur, als hätte er das alles bereits gewusst, und ging wieder auf die Stadt zu. Sie fühlte sich etwas enttäuscht, ohne recht zu wissen, warum, schnalzte mit der Zunge zu Rusher und drückte ihm die Knie in die Seiten. Er setzte sich in Bewegung und zog mit seinem Herrn gleich, der Rushers Nüstern freundschaftlich streichelte.
»Wie nennt man jenen Ort?«, fragte er und zeigte auf die Bohrtürme.
»Das Ölfeld? Citgo.«
»Pumpen einige der Türme noch?«
»Aye, und man kann sie nicht abschalten. Nicht, dass allerdings noch jemand wüsste, wie das überhaupt ginge.«
»Oh«, sagte er, und das war alles – nur oh. Aber er wich einen Moment von Rushers Seite, als sie den überwachsenen Weg erreichten, der zum Citgo-Ölfeld hineinführte, und ging zu dem alten leer stehenden Wachhaus. In ihrer Kindheit hatte ein Schild hier gehangen, auf dem ZUTRITT NUR FÜR PERSONAL stand, aber das war in diesem oder jenem Orkan weggerissen worden. Will Dearborn sah sich um, dann schlenderte er in seiner neuen Kleidung gleichmütig zu seinem Pferd zurück, und seine Stiefel wirbelten den Sommerstaub auf.
Sie gingen auf die Stadt zu, ein junger Mann mit flachkrempigem Hut zu Fuß, eine junge Frau zu Pferde, die einen Poncho über Schoß und Beine gelegt hatte. Das Licht der Sterne strahlte
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