Der Dunkle Turm 7 - Der Turm
Treppe hier ist ebenfalls aus Schokolade. Das Geländer ist eine gestreifte Bonbonstange. Man kann jedoch nicht von ›der Treppe ins Obergeschoss‹ sprechen, es gibt nämlich kein Obergeschoss. Durchs Fenster kann man Autos vorbeifahren sehen, die verdächtig wie Bonbons aussehen, und der Straßenbelag scheint Lakritze zu sein. Wenn man jedoch die Tür öffnet und mehr als nur einen einzigen Schritt in Richtung Lakritzstraße macht, findet man sich dort wieder, wo man angefangen hat. In dem, was wir in Ermangelung eines besseren Begriffs ebenso gut ›die wirkliche Welt‹ nennen können.
Das Pfefferkuchenhäuschen – so nennen wir’s nämlich, weil man das hier drinnen immer riecht: warmen Pfefferkuchen, soeben frisch aus dem Backofen – ist gleichermaßen Dinkys Schöpfung wie die Sheemies. Dinky ist in Corbett Hall neben Sheemie einquartiert worden und hat eines Nachts mitbekommen, wie Sheemie sich in den Schlaf geweint hat. Viele Leute hätten unter solchen Umständen angelegentlich weggehört, und ich gebe zu, dass wohl niemand weniger wie der barmherzige Samariter aussieht als Dinky Earnshaw, aber statt wegzuhören, hat er an die Tür von Sheemies Wohnung geklopft und gefragt, ob er hereinkommen dürfe.
Fragt man ihn heute danach, erzählt Dinky einem, das sei keine große Sache gewesen. ›Ich war hier neu, ich war einsam, ich war auf der Suche nach Freunden‹, sagt er dann. ›Als ich einen Kerl so flennen gehört habe, hab ich mir gedacht, dass er vielleicht auch einen Freund wollen würde.‹ Als ob das die natürlichste Sache der Welt wäre. So etwas könnte freilich vielerorts zutreffen, aber nicht im Algul Siento. Und vor allem darüber müsst ihr euch meines Erachtens im Klaren sein, wenn ihr uns verstehen wollt. Entschuldigt also, wenn ich auf diesem Punkt herumzureiten scheine.
Einige der Hume-Wächter nennen uns ›Morks‹ – nach irgendeinem außerirdischen Lebewesen aus irgendeiner Fernsehkomödie. Und Morks sind die selbstsüchtigsten Menschen der Welt. Asozial? Das trifft’s nicht ganz. Manche sind sogar extrem sozial, aber nur insofern, als ihnen das jenes verschafft, was sie gegenwärtig wollen oder brauchen. Sehr wenige Morks sind Soziopathen, aber die meisten Soziopathen sind Morks, wenn ihr versteht, was ich meine. Der berühmteste – Gott sei’s gedankt, dass die niederen Männer ihn nie herübergebracht haben – war ein Massenmörder namens Ted Bundy.
Wenn man ein paar Zigaretten übrig hat, kann niemand einem gegenüber mitfühlender – oder bewundernder – sein als ein Mork, der einen Glimmstängel schnorren will. Aber sobald er ihn hat, ist er auch schon fort.
Die meisten Morks – ich spreche von acht- oder neunundneunzig Prozent – hätten das Weinen hinter dieser geschlossenen Tür gehört und wären beim Vorbeikommen nicht einmal langsamer gegangen. Dinky jedoch hat angeklopft und gefragt, ob er hereinkommen dürfe, und das, obwohl er hier neu und berechtigterweise noch unsicher war (er dachte beispielsweise auch, er würde dafür bestraft werden, dass er seinen vorigen Boss ermordet hatte, aber das ist eine Geschichte für ein andermal).
Wir sollten uns nun Sheemies Reaktion darauf ansehen. Ich behaupte wieder, dass acht- oder sogar neunundneunzig Prozent aller Morks auf eine derartige Frage hin ›Verschwinde!‹ oder sogar ›Verpiss dich!‹ gebrüllt hätten. Warum? Weil wir uns außerordentlich bewusst sind, dass wir anders sind als die Masse der ›normalen‹ Menschen, und es handelt sich um ein Anderssein, das die meisten Menschen nicht mögen. Nicht mehr, als die Neandertaler die ersten Cromagnonmenschen in ihrer Nähe mochten, nehme ich mal an. Morks können Überfälle nicht leiden.«
Eine Pause. Die Spulen drehten sich. Alle vier konnten spüren, dass Brautigan angestrengt nachdachte.
»Nein, das stimmt nicht ganz«, sagte er schließlich. »Morks mögen es nicht, in einem emotional verletzlichen Zustand überrascht zu werden. Zornig, glücklich, in Tränen aufgelöst oder von hysterischem Lachen geschüttelt, alles in dieser Art. Das wäre so, als müsstet ihr Leutchen euch in eine gefährliche Situation begeben, ohne eure Waffen bei euch zu haben.
Ich war hier lange Zeit einsam. Ich war ein Mork, der Mitgefühl hatte, ob mir das gefiel oder nicht. Dann gab es Sheemie, der tapfer genug war, um Trost anzunehmen, als ihm Trost angeboten wurde. Und Dinky, der bereit war, ihm die Hand hinzustrecken. Die meisten Morks sind egoistische Introvertierte,
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