Der Dunkle Turm 7 - Der Turm
die sich als knorrige Individualisten ausgeben – sie wollen von ihrer Umwelt als Lederstrumpf-Typen gesehen werden –, und das hiesige Personal ist davon begeistert, das könnt ihr mir glauben. Keine Gemeinschaft ist leichter zu regieren als eine, die jeglichen Gemeinschaftsbegriff ablehnt. Seht ihr nun, weshalb ich mich zu Sheemie und Dinky hingezogen gefühlt habe und wie sehr ich von Glück sagen kann, dass ich sie gefunden habe?«
Susannahs Hand stahl sich in Eddies. Er ergriff sie und drückte sie sanft.
»Sheemie hat sich im Dunkeln gefürchtet«, fuhr Ted fort. »Die niederen Männer – ich bezeichne sie alle als niedere Männer, obwohl hier Humes und Taheen sowie Can-Toi beschäftigt sind – verfügen über ein Dutzend raffinierter Tests zur Ermittlung psychischer Potenziale, aber sie konnten anscheinend nicht feststellen, dass sie einen geistig Beschränkten erwischt hatten, der sich einfach im Dunkeln fürchtete. Pech für sie.
Dinky hat das Problem sofort erfasst und dadurch gelöst, dass er Sheemie Geschichten erzählt hat. Die ersten waren Märchen, und eines davon war ›Hänsel und Gretel‹. Sheemie war von dem Pfefferkuchenhäuschen derart fasziniert, dass er ständig weitere Einzelheiten hören wollte. Und so war’s eigentlich Dinky, der sich die Schokoladesessel mit den Marshmallow-Polstern, den Gummibonbonbogen und die Bonbonstange als Treppengeländer ausgedacht hat. Eine Zeit lang gab es sogar ein Obergeschoss; dort standen die Betten der ›Drei Bären‹. Aber Sheemie hat sich nie viel aus dieser anderen Märchengeschichte gemacht, und als sie bei ihm in Vergessenheit geriet, ist das Obergeschoss der Casa Pfefferkuchen …« Ted Brautigan gluckste vor sich hin. »Na, irgendwie könnte man sagen, dass es biologisch abgebaut worden ist.«
»Wie dem auch sei, ich glaube, dass es sich bei dem Häuschen, in dem ich mich gerade befinde, eigentlich um eine Zeitfistel handelt. Oder …« Erneut eine Pause. Ein Seufzer. Dann: »Also, es gibt eine Milliarde Universen, die eine Milliarde Realitäten enthalten. Das ist etwas, was mir klar geworden ist, seit ich aus der zurückgeholt worden bin, die der Ki’-dam immer wieder als meinen ›kleinen Urlaub in Connecticut‹ bezeichnet. Dieser schleimige Hundesohn!«
In Brautigans Stimme verbarg sich aufrichtiger Hass, fand Roland, und das war gut. Hass war gut. Er war nützlich.
»Diese Realitäten gleichen einem Spiegelkabinett, in dem es jedoch keine exakt gleichen Reflexionen gibt. Das ist ein Bild, auf das ich später zurückkommen möchte, aber das hat noch etwas Zeit. Vorerst möchte ich nur, dass ihr versteht – oder einfach akzeptiert –, dass die Realität organisch ist, dass sie lebt. Sie gleicht einem Muskel. Sheemie tut nichts anderes, als mit einer mentalen Injektionsspritze ein Loch in diesen Muskel zu piken. Über diese Nadel verfügt er nur, weil er etwas Besonderes ist …«
»Weil er ein Mork ist«, murmelte Eddie.
»Pst!«, sagte Susannah.
»… kann er sie einsetzen«, fuhr Brautigan fort.
(Roland überlegte, ob er zurückspulen sollte, um die fehlenden Worte zu hören, hielt das dann aber doch für überflüssig.)
»Dies hier ist ein Ort außerhalb der Zeit, außerhalb der Realität. Ich weiß, dass ihr etwas von der Funktion des Dunklen Turms versteht; ihr begreift seinen einigenden Zweck. Nun, stellt euch das Pfefferkuchenhäuschen als einen Balkon des Turms vor: Wenn wir uns darin aufhalten, befinden wir uns außerhalb des Turms, sind aber weiterhin mit dem Turm verbunden. Dieser Ort ist durchaus real – so real, dass ich mit Puderzuckerflecken an den Händen und an meiner Kleidung zurückgekommen bin –, aber nur Sheemie Ruiz hat zu ihm Zugang. Sobald wir hier sind, verwandelt er sich in alles, was Sheemie nur will. Man fragt sich, Roland, ob Sie und Ihre Freunde auch nur geahnt haben, was Sheemie wirklich ist und was er kann, als Sie ihm damals in Mejis begegnet sind.«
An dieser Stelle streckte Roland die Hand aus und drückte die Stopptaste des Tonbandgeräts. »Wir wussten, dass er … seltsam war«, erzählte er den anderen. »Wir wussten, dass er etwas Besonderes war. Cuthbert hat manchmal gesagt: ›Was ist nur mit diesem Jungen los? Er macht, dass mir die Haut kribbelt!‹ Und dann ist er in Gilead aufgetaucht, er und sein Esel Capi. Hat behauptet, dass er uns auf ihm gefolgt ist. Wir wussten, dass das unmöglich war, aber damals ist so vieles passiert, dass ein Saloonjunge aus Mejis – nicht gerade
Weitere Kostenlose Bücher