Der Dunkle Turm 7 - Der Turm
einem Mann mit fast greifbar starkem Akzent ermahnt: »Sie bleim jetzt gefälligs hier draußn, Boa.« Nach kurzem Überlegen kommt Ted darauf, dass der Feldwebel ihn nicht tatsächlich als Schlange bezeichnet; aus dem Mund eines Dixiecrats dürfte Boa in diesem Zusammenhang Boy heißen.
Eine Zeit lang bleibt Ted einfach dort stehen, wo er deponiert worden ist. Er denkt: Wie viel braucht’s eigentlich, um euch zu überzeugen? Und: Wie blind kann man nur sein? Er kann nicht glauben, was ihm gerade zugestoßen ist.
Er muss es aber glauben, steht er doch hier draußen vor der Tür. Und nach einem sechs Meilen langen Spaziergang um Hartford glaubt er, auch etwas anderes zu verstehen. Sie werden es nie glauben. Keiner von ihnen. Niemals. Sie weigern sich zu erkennen, dass jemand, der die Gedanken des versammelten deutschen Oberkommandos lesen könnte, ein bisschen nützlich sein könnte. Jemand, der dem alliierten Oberkommando sagen könnte, wo die nächste deutsche Großoffensive stattfinden wird. Jemand, der so was mehrmals – vielleicht sogar nur ein- oder zweimal! – schaffte, konnte den Krieg vielleicht bis Weihnachten beenden. Aber er wird keine Gelegenheit dazu haben, weil man ihm keine geben wird. Und warum nicht? Das hat etwas damit zu tun, weshalb der zweite Arzt seine Zahl geändert hat, nachdem Ted sie gesagt hatte, und dann keine zweite aufschreiben wollte. Weil sie tief im Innersten kämpfen wollen und ein Kerl wie er bloß alles verderben würde.
Irgendwas in dieser Art.
Scheiß drauf. Er wird nach Harvard gehen und auf Kosten seines Onkels studieren.
Und das tut er dann auch. Harvard ist alles das, was Dinky ihnen erzählt hat, und noch mehr: Theatergruppe, Debattierclub, Harvard Crimson, Mathematische Oddfellows und natürlich die Krönung des Ganzen: die Phi-Beta-Kappa-Mitgliedschaft. Er spart seinem Onkel sogar ein paar Bucks, indem er sein Abschlussexamen vorzeitig ablegt.
Er reist durch Südfrankreich, der Krieg ist längst vorbei, als ihn ein Telegramm erreicht: ONKEL TOT STOP HEIMKEHR BALDIGST STOP
Das Schlüsselwort scheint hier STOP zu sein.
Das war weiß Gott einer dieser Wendepunkte im Leben. Er kehrte heim, ja, und tröstete, wo Trost nötig war, ja. Aber statt ins Möbelgeschäft einzusteigen, beschließt Ted, seinen Marsch zum finanziellen Erfolg zu STOPPEN und den in finanzielles Mittelmaß zu BEGINNEN. Im Verlauf der ganzen langen Geschichte des Mannes hörte Rolands Ka-Tet kein einziges Mal, dass Ted Brautigan sein außergewöhnliches Talent oder seinen Augenblick der Erleuchtung – dass es sich um ein wertvolles Talent handelt, das niemand auf der Welt will – für seine selbst gewählte Anonymität verantwortlich machte.
Und Gott, wodurch er das begreifen lernt! Zum einen ist sein »wildes Talent« (wie schundige Science-Fiction-Magazine es manchmal nennen) unter den richtigen Umständen tatsächlich körperlich gefährlich. Oder unter den falschen.
Im Jahr 1935, in Ohio, macht es Ted Brautigan zum Mörder.
Er bezweifelt nicht, dass manche das Wort für zu schroff halten würden, aber speziell diesen Fall muss man ihn schon selbst beurteilen lassen, verbindlichsten Dank, und er findet das Wort angebracht. Die Szene spielt in Akron, und es ist Sommerabend, und Kinder spielen an einem Ende der Stossy Avenue mit einer Blechbüchse Fußball und am anderen Schlagball, und Brautigan steht in einem leichten Sommeranzug an der Ecke, steht neben dem Telefonmast mit dem aufgemalten weißen Streifen, der bedeutet, dass der Bus hier hält. Hinter ihm liegt ein ehemaliges Süßwarengeschäft mit einem blauen NBA-Adler in einem der Schaufenster und der mit weißer Farbe aufgepinselten Botschaft SIE BRING DEN KLEIN MANN UM am anderen. Ted steht einfach nur mit seiner abgewetzten Aktentasche aus Korduanleder und einer braunen Papiertüte da – ein Schweinekotelett zum Abendessen, er hat es sich in Mr. Dales Fancy Butcher Shop gekauft –, als plötzlich jemand von hinten so heftig gegen ihn anrennt, dass er gegen den Telefonmast mit dem weißen Streifen prallt. Er kommt mit der Nase zuerst auf. Das Nasenbein bricht. Aus der Nase spritzt Blut. Dann prallt er mit dem Mund auf, spürt, wie die Zähne sich von innen in die Oberlippe graben, und hat plötzlich einen salzigen Geschmack wie von heißem Tomatensaft im Mund. Ein dumpfer Schlag trifft sein Kreuz, gleichzeitig ist ein Reißen zu hören. Seine Hose, die ihm bei dem Aufprall halb über den Hintern runtergerutscht ist, hängt wie
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