Der Dunkle Turm 7 - Der Turm
eine Clownshose verrutscht und verdreht an ihm, und plötzlich rennt ein Kerl in einem T-Shirt und einer Gabardinehose mit glänzendem Hosenboden die Stossy Avenue entlang in Richtung Schlagballspiel davon, und das Ding, das in seiner rechten Hand flattert, wie eine braune Lederzunge flattert, he, dieses Ding ist Ted Brautigans Geldbörse. Ihm ist gerade die Geldbörse geraubt worden, bei Gott!
Die violette Dämmerung jenes Sommerabends wird plötzlich ganz dunkel, dann hellt sie sich auf, dann wird sie nochmals dunkel. Es sind seine Augen, die den Trick vollführen, der den zweiten Arzt vor fast zwanzig Jahren so verblüfft hat, aber Ted nimmt das kaum wahr. Seine Aufmerksamkeit konzentriert sich auf den Flüchtenden, auf diesen Scheißkerl, der ihm eben die Geldbörse geraubt und nebenbei die Fresse poliert hat. Er ist noch nie in seinem Leben so wütend gewesen, niemals, und obwohl der Gedanke, den er dem Flüchtenden nachschickt, harmlos, fast sanft ist
(hör zu Kumpel wenn du gefragt hättest hätte ich dir einen Dollar gegeben vielleicht sogar zwei)
besitzt er das tödliche Gewicht eines Wurfspeers. Und er war ein Speer. Ted braucht einige Zeit, um sich damit ganz abzufinden, aber als es so weit ist, wird ihm bewusst, dass er ein Mörder ist, und falls es einen Gott gibt, wird Ted Brautigan eines Tages vor dessen Thron stehen und sich dafür verantworten müssen, was er eben getan hat. Der Flüchtende scheint über irgendetwas zu stolpern, aber dort gibt es nichts, nur die drei Wörter HARRY LIEBT BELINDA in verblassender Kreideschrift auf dem von Rissen durchzogenen Gehsteig. Diese Botschaft ist von kindlich gezeichneten Symbolen umrahmt – Sterne, ein Komet, ein Halbmond –, die er später fürchten lernen wird. Ted fühlt sich, als hätte er gerade selbst einen Speer zwischen die Schulterblätter bekommen, aber zumindest steht er noch. Er hat’s doch nicht so gemeint. Das steht fest. In seinem Herzen weiß er, dass er das nicht wollte. Er ist nur … vom Zorn überfallen worden.
Er hebt seine Geldbörse auf und sieht, dass die Kinder, die Schlagball gespielt haben, ihn mit offenem Mund anstarren. Er richtet seine Geldbörse auf sie, als wäre sie eine Art Schusswaffe mit schlaff herabhängendem Lauf, und der Junge, der den abgesägten Besenstiel hält, fährt zusammen. Dieses Zusammenfahren, mehr noch als der zusammenbrechende Leib, wird Ted noch mindestens ein Jahr lang im Traum verfolgen – und danach ab und an sein ganzes Leben lang. Weil er Kinder mag, niemals eines absichtlich erschrecken würde. Und er weiß, was sie sehen: einen Mann mit so weit heruntergezogener Hose, dass seine Unterhosen zu sehen sind (wer weiß, vielleicht hängt aus dem Schlitz sogar sein Pimmel raus, und wäre das nicht der endgültige magische Effekt?), einer Geldbörse in der Hand und einem bekloppten Ausdruck auf der blutigen Fresse.
»Ihr habt nichts gesehen!«, brüllt er sie an. »Hört ihr? Kapiert? Ihr habt nichts gesehen!«
Dann zieht er sich die Hose hoch. Dann geht er zu seiner Aktentasche zurück und hebt sie auf, aber nicht das Schweinekotelett in der braunen Papiertüte, scheiß auf das Schweinekotelett, er hat den Appetit ebenso verloren wie einen seiner Schneidezähne. Dann wirft er einen letzten Blick auf die Leiche auf dem Gehsteig und die verängstigten Kinder. Dann flüchtet er.
Was zu einem Lebensberuf wird.
5
Das Ende des zweiten Tonbands löste sich aus der Spule und machte leise fwip-fwip-fwip, während es kreiselte.
»Jesus«, sagte Susannah. »Jesus, dieser arme Mann.«
»Und alles so lange her«, sagte Jake und schüttelte den Kopf, als könnte er dadurch wieder klar denken. Ihm erschienen die Jahre zwischen seinem und Mr. Brautigans Wann als unüberwindbare Kluft.
Eddie griff nach der dritten Schachtel, klappte sie auf, damit das Tonband sichtbar wurde, und sah mit hochgezogenen Augenbrauen zu Roland hinüber. Der Revolvermann machte mit einem Finger die vertraute kreisende Geste, die Los, los, weiter! besagte.
Eddie fädelte das Band durch die Tonköpfe. Das hatte er zuvor noch nie gemacht, aber dazu brauchte man auch kein Raketenwissenschaftler zu sein, wie es immer so schön hieß. Die müde Stimme hob wieder an, sprach aus dem Pfefferkuchenhaus, das Dinky Earnshaw für Sheemie geschaffen hatte: ein realer Ort, der rein aus Phantasie entstanden war. Ein Balkon an der Seite des Dunklen Turms, wie Brautigan ihn genannt hatte.
Als er den Mann umbrachte (versehentlich, dem
Weitere Kostenlose Bücher