Der Dunkle Turm 7 - Der Turm
mich an.
Seht mich sehr wohl an.«
3
Der Mann schwankte so stark, dass Roland kurz fürchtete, er werde zusammenklappen, statt sich umzudrehen. Aber vielleicht sagte irgendein überlebensorientierter Teil seines Gehirns ihm, dass sein Leben eher in Gefahr war, wenn er jetzt ohnmächtig werde, jedenfalls schaffte der Ladenbesitzer es irgendwie, auf den Beinen zu bleiben und sich nach dem Revolvermann umzudrehen. Seine Kleidung hatte fast unheimliche Ähnlichkeit mit der, die er bei Rolands vorigem Besuch getragen hatte; die schwarze Krawatte und die bis hoch über die Taille reichende Fleischerschürze hätten die gleichen wie damals sein können. Das Haar, das er wie früher glatt zurückgekämmt trug, war nicht mehr nur grau meliert, sondern inzwischen ganz weiß. Roland erinnerte sich daran, wie Blut aus der linken Schläfe des Ladenbesitzers gespritzt war, nachdem eine Kugel – möglicherweise von Andolini selbst abgefeuert – sie gestreift hatte. Jetzt befand sich dort ein hellgrau verfärbter Klumpen Narbengewebe. Roland vermutete, dass der Mann sein Haar mit Fleiß auf eine Weise kämmte, die diese Narbe eher zur Schau stellte, als sie zu verbergen. Er hatte an jenem Tag das Glück eines Dummen gehabt oder war vom Ka gerettet worden. Letzteres hielt Roland für wahrscheinlicher.
Das angstvolle Wiedererkennen in seinem Blick ließ vermuten, dass das auch der Ladenbesitzer glaubte.
»Habt Ihr ein Karromobil, ein Truckomobil oder ein Tack-Sieh?«, fragte Roland, wobei seine Waffe weiter auf den Bauch des Ladenbesitzers zielte.
Jake trat neben Roland. »Was fahren Sie?«, fragte er den Ladenbesitzer. »Das meint er.«
»Pick-up!«, brachte der Ladenbesitzer heraus. »International Harvester! Steht draußen auf dem Parkplatz!« Er griff so plötzlich unter seine Schürze, dass Roland ihn um ein Haar erschossen hätte. Zu seinem Glück merkte der Ladenbesitzer das offenbar nicht. Alle Kunden – auch die Frau, die an der Kühltheke gestanden hatte – lagen jetzt flach auf dem Boden. Roland konnte das Fleisch riechen, das sie sich hatte abwiegen lassen, worauf sofort sein Magen knurrte. Er war müde, hungrig, mit Kummer überladen, und es gab zu viele Dinge, an die er denken musste, bei weitem zu viele. Sein Verstand kam nicht mehr mit. Jake hätte vielleicht gesagt, er brauche eine »Auszeit«, aber Roland konnte in ihrer unmittelbaren Zukunft keine Auszeiten sehen.
Der Ladenbesitzer hielt ihm einen Schlüsselbund hin. Die Finger zitterten, und die Schlüssel klirrten leise. Die durch die Schaufenster einfallende Spätnachmittagssonne fiel auf sie und warf komplizierte Reflexionen in die Augen des Revolvermanns. Erst hatte der Mann mit der Hand unter seine weiße Schürze gegriffen (und das gar nicht langsam), ohne um Erlaubnis zu fragen; jetzt hielt er mehrere reflektierende Metallobjekte hoch, wie um seinen Gegner zu blenden. Als ob er es darauf anlegte, erschossen zu werden. Aber so war’s auch am Tag des Hinterhalts gewesen, oder nicht? Der Krämer (damals noch leichtfüßiger und ohne krummen Rücken) war Eddie und ihm wie eine Katze nachgelaufen, die es nicht lassen konnte, einem zwischen die Beine zu geraten, und hatte den Kugelhagel um sie herum anscheinend nicht wahrgenommen (genau wie er den Streifschuss an seiner Schläfe zunächst anscheinend nicht bemerkt hatte). Roland wusste noch gut, wie er zwischendrin von seinem Sohn erzählt hatte – fast wie ein Mann, der beim Friseur ein Schwätzchen hielt, während er darauf wartete, dass er an die Reihe kam. Also ein Ka-Mai, und solche Leute waren nicht selten gegen Gefahren gefeit. Zumindest bis das Ka ihrer Possen überdrüssig wurde und sie aus dieser Welt hinausbeförderte.
»Nehmen Sie den Pick-up, nehmen Sie ihn, fahren Sie, wohin Sie wollen!«, rief der Ladenbesitzer. »Er gehört Ihnen! Ich schenke ihn Ihnen! Wirklich!«
»Wenn Ihr nicht aufhört, mich mit den verdammten Schlüsseln zu blenden, Sai, nehme ich Euch das Leben«, sagte Roland. Hinter der Theke hing eine weitere Uhr. Ihm war bereits aufgefallen, dass diese Welt voller Uhren war, so als glaubten die Leute, die hier lebten, sie könnten damit die Zeit käfigen. Zehn vor vier, was bedeutete, dass sie schon neun Minuten auf der Amerika-Seite waren. Die Zeit raste, raste nur so dahin. Irgendwo in der Nähe befand Stephen King sich höchstwahrscheinlich auf seinem Nachmittagsspaziergang, und zwar in verzweifelter Gefahr, obwohl er nichts davon ahnte. Oder war es schon
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