Der Dunkle Turm 7 - Der Turm
muss«, sagte sie.
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In Maine gibt es noch keine Erdbeeren, nicht so früh in der Saison, aber es gibt Himbeeren. Justine Anderson (aus Maybrook, New York) und Elvira Toothaker (ihre Freundin aus Lovell) gehen mit kleinen Plastikeimern die Route 7 entlang (die Elvira noch immer die Old Fryeburg Road nennt) und ernten die Büsche ab, die auf einer Strecke von mindestens einer halben Meile entlang der alten Steinmauer wachsen. Garrett McKeen hat diese Mauer vor hundert Jahren hochgezogen, und mit Garretts Urenkel spricht Roland Deschain von Gilead in eben diesem Augenblick. Das Ka ist ein Rad, wie ihr alle wisst.
Dass die beiden Frauen ihren einstündigen Spaziergang genossen haben, liegt nicht daran, dass eine von ihnen eine besondere Vorliebe für Himbeeren hätte (Justine vermutet sogar, dass sie ihre nicht essen wird, weil sich ihr die Kernchen immer zwischen die Zähne klemmen), sondern dass er ihnen Gelegenheit gegeben hat, Nachrichten über ihre jeweiligen Familien auszutauschen und gemeinsam ein bisschen über die Jahre zu lachen, in denen ihre Freundschaft noch frisch und wahrscheinlich das Wichtigste im Leben beider Mädchen war. Sie haben sich am Vassar College kennen gelernt (vor tausend Jahren, so kommt ihnen das jetzt vor) und haben im dritten Studienjahr bei der Abschlussfeier miteinander das Gänseblumenkränzchen getragen. Darüber sprechen sie gerade, als der blaue Minivan – ein 1985er Dodge Caravan, Justine erkennt Marke und Modell, weil ihr ältester Sohn sich genau so einen zugelegt hatte, als Familienzuwachs kam – um die Kurve bei Melders German Restaurant & Brathaus kommt. Er braucht die gesamte Straßenbreite, schlingert von einer Seite zur anderen, lässt erst Staub vom linken Bankett aufwirbeln, schleudert über den Asphalt und zieht dann auf dem rechten Seitenstreifen eine Staubfahne hinter sich her. Als er das zum zweitenmal macht – wobei er jetzt in recht flottem Tempo auf sie zukommt –, fürchtet Justine schon, er könnte in den Straßengraben geraten und sich überschlagen (»einen Kopfstand machen«, wie man in den Vierzigerjahren sagte, als Elvira und sie noch auf dem Vassar waren), aber der Fahrer lenkt ihn im letzten Augenblick wieder auf die Straße zurück.
»Vorsicht, der Kerl ist betrunken oder sonst was!«, sagt Justine erschrocken. Sie zieht Elvira vom Fahrbahnrand zurück, aber sie müssen feststellen, dass die alte Mauer mit vorgelagerten Himbeerbüschen ihnen den Weg versperrt. Die Dornen verfangen sich in ihren leichten Sommerhosen (Gott sei Dank, dass keine von uns Shorts getragen hat, wird Justine später denken … als sie zum Denken Zeit hat) und ziehen Fäden aus dem Stoff.
Justine überlegt sich, dass sie ihrer Freundin einen Arm um die Schultern legen und sie beide über die hüfthohe Mauer katapultieren sollte – mit einem Rückwärtssalto, genau wie damals vor vielen Jahren im Turnunterricht –, aber bevor sie sich dazu entschließen kann, ist der blaue Van auch schon bei ihnen, allerdings befindet er sich im Augenblick, in dem er an ihnen vorbeizieht, mehr oder weniger auf der Straße, sodass er für sie keine Gefahr mehr darstellt.
Justine beobachtet, wie er mit gedämpft wummernder Rockmusik vorbeifährt, spürt ihr Herz gewaltig pochen und hat den schalen, metallischen Geschmack von etwas auf der Zunge, was ihr Körper ausgeschüttet haben muss – Adrenalin wäre da wohl die wahrscheinlichste Möglichkeit. Auf halber Strecke den Hügel hinauf gerät der Minivan nun wieder über den weißen Mittelstrich. Der Fahrer korrigiert seinen Fehler … nein, überkorrigiert ihn. Der blaue Van gerät abermals aufs rechte Bankett und wirbelt auf einer Strecke von fünfzig Metern gelben Staub auf.
»Gottchen, hoffentlich sieht Stephen King dieses Arschloch rechtzeitig«, sagt Elvira. Sie sind dem Schriftsteller ungefähr eine halbe Meile von hier begegnet und haben einander gegrüßt. In der ganzen Kleinstadt gibt es wahrscheinlich niemanden, der ihn nicht schon einmal bei einem seiner Nachmittagsspaziergänge gesehen hat.
Als hätte der Fahrer gehört, dass Elvira ihn ein Arschloch genannt hat, flammen plötzlich die Bremsleuchten des blauen Minivans auf. Der Wagen rollt ganz von der Straße und kommt zum Stehen. Kaum öffnet sich die Tür, hören die beiden Damen ohrenbetäubend laute Rockmusik wummern. Sie hören auch, wie der Fahrer jemanden anschnauzt (Elvira und Justine bemitleiden jeden, der an einem so schönen Juninachmittag bei solch
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