Der Dunkle Turm 7 - Der Turm
rief sie aus. »Ist mein Sohn nicht schön, so lieblich wie die Sommersonne?«
Das waren ihre letzten Worte.
5
Ihr Gesicht erstarrte nicht eigentlich, sondern wurde lediglich reglos. Wangen und Stirn und Kehle, die noch vor kurzem von den Mühen der Geburt dunkelrot angelaufen gewesen waren, verblassten zur wachsartigen Weiße von Orchideenblüten. Die leuchtenden Augen lagen still und unbeweglich in den Höhlen. Und plötzlich hatte Susannah das Gefühl, sie würde keine auf einem Bett liegende Frau betrachten, sondern die Zeichnung einer Frau. Eine außergewöhnlich detaillierte, aber trotzdem etwas, das mit Zeichenkohle und ein paar blassen Farben auf Papier entstanden war.
Susannah erinnerte sich daran, wie sie nach ihrem ersten Besuch auf dem Wehrgang des Schlosses Discordia ins Hotel Plaza-Park Hyatt zurückgekehrt war, wie sie nach dem letzten Palaver mit Mia im Schutz der Brustwehr hierher nach Fedic gekommen war. Wie ein Riss durch den Himmel und das Schloss und sogar den Stein der Brustwehr gegangen war. Und dann – als trüge ihr Gedanke Schuld daran – riss Mias Gesicht vom Haaransatz bis zum Kinn auf. Ihre starren und trübe werdenden Augen fielen schräg nach beiden Seiten auseinander. Ihre Lippen spalteten sich zu einem verrückten doppelten Zwillingsgrinsen. Und es war nicht Blut, was aus diesem breiter werdenden Riss in ihrem Gesicht quoll, sondern ein moderig riechendes weißes Pulver. Susannah erinnerte sich an Bruchstücke von T. S. Eliot
(hohle Männer die Ausgestopften Stroh im Schädel)
und Lewis Carroll
(ihr seid ja nichts weiter als ein Kartenspiel)
bevor Mias Dan-Tete seinen grässlichen Kopf vom ersten Mahl seines Lebens hob. Er öffnete das blutverschmierte Maul und stemmte sich hoch, wobei er mit den Hinterbeinen scharrend auf dem entleerten Bauch seiner Mutter Halt suchte, während die Vorderbeine fast mit Susannah schattenzuboxen schienen.
Er quiekte triumphierend, und hätte er sich in diesem Augenblick dazu entschlossen, auch die andere Frau anzufallen, von der er während der Schwangerschaft genährt worden war, wäre Susannah Dean bestimmt neben Mia gestorben. Stattdessen wandte er sich aber der schlaff ausgesaugten Brust zu, an der er zuerst getrunken hatte, und riss sie ab. Es waren feucht schmatzende Kaugeräusche. Im nächsten Augenblick vergrub er sich in dem selbst erzeugten Loch, sodass das weiße Menschengesicht verschwand, während Mias Gesicht durch den aus ihrem Kopf quellenden Staub verdeckt wurde. Gleichzeitig war ein scharfes, fast industriell klingendes Sauggeräusch zu hören, und Susannah dachte: Es entzieht ihr alle Flüssigkeit, alle noch verbliebene Flüssigkeit. Und seht ihn euch an! Seht, wie er anschwillt! Wie ein Blutegel an einem Pferdehals!
Ausgerechnet jetzt fragte eine lächerlich englische Stimme im sonoren Tonfall eines lebenslänglichen Kammerdieners: »Bitte um Verzeihung, meine Herren, aber wird dieser Brutkasten noch gebraucht? Die Situation scheint sich jedenfalls leicht geändert zu haben, wenn man mir diese Bemerkung gestattet.«
Die Unterbrechung beendete Susannahs Lähmung. Sie stemmte sich mit einer Hand hoch und bekam mit der anderen Scowthers Pistole zu fassen. Sie ruckte daran, aber die Waffe war mit einem Lederriemen gesichert und wollte sich nicht ziehen lassen. Mit dem Zeigefinger ertastete sie den kleinen Sicherungsknopf und schob ihn nach vorn. Dann richtete sie die noch im Halfter steckende Waffe auf Scowthers Brustkorb.
»Was zum Teu …«, rief er, aber da hatte sie bereits mit dem Mittelfinger den Abzug betätigt, während sie gleichzeitig mit aller Kraft an dem Schulterhalfter zerrte. Die Ledergurte hielten, aber der dünnere Sicherungsriemen für die Pistole riss, und als Scowther zur Seite fiel, während er auf das rauchende schwarze Loch in seinem weißen Arztmantel hinunterzusehen versuchte, brachte Susannah endlich die Waffe an sich. Sie erschoss Straw und den Vampir neben ihm, den mit dem elektrischen Schwert. Der Vampir stand noch einen Augenblick da und starrte den Spinnengott an, der anfangs völlig wie ein Menschenbaby ausgesehen hatte; dann erlosch seine Aura. Und sein Fleisch verschwand mit ihr. Einen Augenblick lang war dort, wo er gestanden hatte, noch ein leeres Hemd zu sehen, das in leeren Jeans steckte. Dann sackten diese Kleidungsstücke zusammen.
»Legt sie um!«, brüllte Sayre und griff nach der eigenen Pistole. »Knallt das Weib ab!«
Susannah wälzte sich von dem Spinnenwesen weg,
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