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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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und so dunkel waren, daß sie wie grundlose Bergseen wirkten. Ihr Haar hatte eine wunderbar kräftige dunkelbraune Farbe und war auf dem Kopf zu einer beiläufigen, irren Hochfrisur aufgetürmt; es wurde von einer Haarnadel gehalten, die so groß war, daß sie ein Fleischspieß hätte sein können. Sie trug ein Kleid, das aus Sackleinwand gemacht zu sein schien. Die Arme, die das Gesangbuch hielten, waren Balken. Ihre Haut war milchig, makellos, herrlich. Er dachte, daß sie über dreihundert Pfund wiegen mußte. Er verspürte ein plötzliches rotglühendes Verlangen nach ihr, das ihn erzittern ließ, und er wandte den Kopf ab und sah weg.
    »Gehen wir alle zum Fluß hinab,
    Dem wunderbaren, dem wunderbaren
    Fluuuß,
    Gehen wir alle zum Fluß hinab,
    Dem Fluß beim Reiche Gottes.«
    Der letzte Ton der letzten Strophe verklang, es folgte ein Augenblick des Blätterns und Hustens.
    Sie wartete. Als sie zur Ruhe gekommen waren, breitete sie die Hände über ihnen aus, als wollte sie sie segnen. Es war eine beschwörende Geste.
    »Meine lieben kleinen Brüder und Schwestern in Christus.«
    Das war ein quälender Satz. Der Revolvermann verspürte einen Augenblick gemischte Gefühle von Nostalgie und Furcht, verbunden mit einem unheimlichen Gefühl des déjà vu – er dachte: Ich habe das geträumt. Wann? Er schüttelte den Gedanken ab. Das Publikum – alles in allem vielleicht fünfundzwanzig Personen – war totenstill geworden.
    »Das Thema unserer heutigen Meditation ist der Versucher.« Ihre Stimme klang lieblich, melodiös, die Sprechstimme eines ausgebildeten Soprans.
    Ein leises Rascheln lief durch das Publikum.
    »Mir ist«, sagte Sylvia Pittston nachdenklich, »mir ist, als würde ich jeden in der Schrift persönlich kennen. Ich habe in den vergangenen fünf Jahren fünf Bibeln abgenutzt, und zahllose davor. Ich mag die Geschichte, und ich mag die Personen der Geschichte. Ich ging Arm in Arm mit Daniel in der Löwengrube. Ich stand neben David, als er von der im Teich badenden Bathseba in Versuchung geführt wurde. Ich war mit Schadrach, Meschach und Abednego im Feuerofen. Ich erschlug zweitausend mit Samson und wurde mit Paulus auf der Straße nach Damaskus geblendet. Ich weinte mit Maria auf dem Berg Golgatha.«
    Ein leises, zischelndes Seufzen im Publikum.
    »Ich habe sie gekannt und geliebt. Es gibt nur einen – einen …« – sie hielt einen Finger hoch – »… einen Mitspieler im größten aller Dramen, den ich nicht kenne. Nur einen , der mit im Schatten verborgenem Gesicht draußen steht. Nur einen , der meinen Leib erzittern und meine Seele verzagen läßt. Ihn fürchte ich. Ich kenne seine Gedanken nicht, und ich fürchte ihn. Ich fürchte den Versucher.«
    Wieder ein Seufzen. Eine Frau hatte die Hand vor den Mund geschlagen, als wollte sie einen Laut unterdrücken, und wippte, wippte.
    »Der Versucher, der als Schlange auf dem Bauch von Eva kam und grinste und sich wand. Der Versucher, der unter den Kindern Israel wandelte, während Moses auf dem Berg war, der ihnen einflüsterte, ein Götzenbild aus Gold zu machen, ein goldenes Kalb, und es mit Schmutz und Hurerei anzubeten.«
    Stöhnen, Nicken.
    »Der Versucher! Er stand mit Jezebel auf dem Balkon und sah zu, wie König Ahaz schreiend in den Tod stürzte, und er und sie grinsten, als die Hunde sich versammelten und sein Lebensblut aufleckten. O meine kleinen Brüder und Schwestern, haltet Ausschau nach dem Versucher.«
    »Ja, o Jesus…« Der Mann, den der Revolvermann als ersten gesehen hatte, als er in die Stadt kam, der mit dem Strohhut.
    »Er ist immer da gewesen, meine Brüder und Schwestern. Aber ich kenne seine Gedanken nicht. Und ihr kennt seine Gedanken nicht. Wer könnte die schreckliche Dunkelheit begreifen, die dort wirbelt, den Stolz, der einem Bollwerk gleicht, die titanische Blasphemie, die unheilige Wonne? Und den Wahnsinn! Den zyklopischen, stammelnden Wahnsinn, der durch die gräßlichsten Verlangen und Begierden der Menschheit geht und kriecht und sich windet?«
    »O Jesus Erlöser…«
    » Er war es, der unseren Herrn auf den Berg führte…«
    »Ja…«
    » Er war es, der ihn in Versuchung führte und ihm die ganze Welt und die Freuden der Welt zeigte.«
    »Jaaa…«
    » Er wird zurückkehren, wenn die letzten Tage der Welt anbrechen… und sie werden anbrechen, meine Brüder und Schwestern, könnt ihr sie spüren?«
    »Jaaa…«
    Die Gemeinde wurde zu einem wogenden, schluchzenden Meer; die Frau schien auf alle und keinen

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