Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
angefangen, im Chor Stöpsel rein! zu rufen, als wäre das die komischste Sache der Welt.
In diese Erinnerung mischte sich die Besorgnis wegen des Geschwürs selbst. Was war, wenn es ein bösartiger Tumor war? Bisher hatte sie diesen Gedanken stets erfolgreich verdrängt, bevor er sich in ihrem Verstand ganz herausbilden konnte. Diesmal gelang ihr das nicht. Was war, wenn sie dämlich genug gewesen war, sich auf ihrer Wanderung durchs Ödland ein Krebsgeschwür zu holen?
Ihr Magen verkrampfte sich, dann hob er sich. Ihr gutes Abendessen blieb zwar unten, aber möglicherweise nur vorläufig.
Plötzlich wollte sie allein sein, musste unbedingt allein sein. Falls sie sich übergeben musste, wollte sie das nicht vor Roland und diesem Fremden tun. Und auch wenn sie’s nicht musste, wollte sie für einen Augenblick allein sein, um sich wieder in den Griff zu bekommen. Ein Windstoß, der heftig genug war, um das ganze Häuschen erzittern zu lassen, röhrte wie eine »heiße Lok« in voller Fahrt vorbei; das Licht flackerte, und ihr Magen verkrampfte sich erneut, weil die Schatten nun auf seekrank machende Weise über die Wände tanzten.
»Ich muss … auf die Toilette …«, brachte sie heraus. Die Welt schwankte noch einen Augenblick lang, aber dann beruhigte sie sich wieder. In dem offenen Kamin explodierte ein Astknoten und jagte einen Schauer von hellroten Funken in den Schornstein hinauf.
»Bestimmt?«, fragte Joe. Er war nicht mehr wütend (falls er das je gewesen war), aber er betrachtete sie zweifelnd.
»Lasst sie gehen«, sagte Roland. »Sie muss sich wieder beruhigen, glaube ich.«
Susannah wollte ihn dankbar anlächeln, aber das bewirkte nur, dass das aufgeplatzte Geschwür schmerzte und auch wieder zu bluten begann. Sie wusste nicht, was sich dank des dämlichen, nicht heilen wollenden Geschwürs in unmittelbarer Zukunft noch alles ändern würde, aber sie wusste, dass sie in nächster Zeit keine Witze mehr hören wollte. Wenn sie weiterhin lachte, würde sie bald eine Bluttransfusion brauchen.
»Bin gleich wieder da«, sagte sie. »Traut euch bloß nicht, mir den ganzen Pudding wegzuessen, Jungs.« Allein bei dem Gedanken an Essen wurde ihr schlecht, aber sie hatte irgendetwas sagen müssen.
»Was den Pudding betrifft, kann ich nichts versprechen«, sagte Roland. Und als sie sich abwandte, fügte er hinzu: »Ruf mich, falls du dich schwindlig fühlst.«
»Wird gemacht«, sagte sie. »Danke, Roland.«
10
Obwohl Joe Collins allein lebte, herrschte in seinem Bad mit Toilette eine angenehm feminine Atmosphäre vor. Das war Susannah schon aufgefallen, als sie zum ersten Mal auf dem Klo gewesen war. Die Tapete war pink mit grünen Blattranken und – was sonst? – wilden Rosen. Die Toilette selbst war durchaus modern bis auf den Klositz, der nicht aus Kunststoff, sondern aus Holz war. Hatte er ihn selbst geschnitzt? Das war gut denkbar, wie sie fand, aber vermutlich hatte der Roboter den Sitz aus irgendeinem vergessenen Lager mitgebracht. Stotter-Carl? Hatte Joe den Roboter so genannt? Nein, Bill. Stotter-Bill.
Auf einer Seite der Toilette stand ein Hocker, auf der anderen eine Wanne auf Klauenfüßen. Die Wanne war mit einer Duschvorrichtung versehen, die sie an Hitchcocks Psycho denken ließ (andererseits erinnerte jede Dusche sie an diesen verdammten Film, seit sie ihn am Times Square gesehen hatte). Außerdem gab es ein Porzellanwaschbecken mit einem hüfthohen Holzunterschrank – kein Eisenholz, sondern gute alte Eiche massiv, schätzte sie. Darüber war ein Spiegel angebracht. Sie vermutete, dass man ihn herausschwenken konnte und dann seine Pillen und Tinkturen vor sich hatte. Aller häusliche Komfort eben.
Beim Entfernen der Serviette verzog Susannah das Gesicht und stieß einen kleinen fauchenden Schrei aus. Das Gewebe war in dem gerinnenden Blut festgeklebt, weshalb das Losreißen nicht wenig wehtat. Das viele Blut an Wange, Lippen und Kinn erschreckte sie – von dem vom Hals bis zur Schulter hinunter ganz zu schweigen. Sie ermahnte sich, nicht gleich durchzudrehen; wenn man eine verkrustete Wunde aufriss, blutete sie natürlich, das war alles. Vor allem, wenn man sie in seinem dummen Gesicht hatte.
Im anderen Raum hörte sie Joe etwas sagen, was nicht ganz zu verstehen war, und dann Rolands Antwort: ein paar undeutliche Worte mit einem angehängten kleinen Lachen. Eigenartig, ihn so reden zu hören, dachte sie. Fast als wäre er betrunken. Hatte sie Roland jemals betrunken
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