Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
schon gesehen? Sie hatten viel gelacht, dabei hätten sie ihr doch auffallen müssen, aber irgendwie konnte sie sich nicht daran erinnern. Jedenfalls sprach er nicht so undeutlich wie Leute, die fast gar keine Zähne mehr hatten (solche Leute waren oft zu ihrem Vater gekommen, um sich wegen künstlicher Gebisse beraten zu lassen). Hätte sie noch vor kurzem eine Vermutung anstellen sollen, hätte sie impulsiv gesagt, er habe noch Zähne, die aber nur Ruinen seien, die …
Was ist denn mit dir los, Mädel? Er mag in ein paar Punkten gelogen haben, aber ihm ist bestimmt kein Satz neuer Zähne gewachsen, seit ihr euch zum Abendessen hingesetzt habt! Du lässt deine Phantasie mit dir durchgehen.
Tat sie das? Nun, das war möglich. Und vielleicht war auch der dünne Schrei doch nichts anderes als das Heulen des Windes in den Hausgiebeln.
»Ich würde gern ein paar Eurer Witze und Geschichten hören«, sagte Roland. »Wie Ihr sie auf Tournee erzählt habt, wenn’s beliebt.«
Susannah starrte ihn forschend an, weil sie sich fragte, ob der Revolvermann diese Bitte mit einem Hintergedanken vorbrachte, aber er schien sich aufrichtig dafür zu interessieren. Seit Roland die mit Reißzwecken an der Wohnzimmerwand befestigte Polaroidaufnahme des Dunklen Turms gesehen hatte (zu dem er ständig wieder hinübersah, während Joe seine Geschichte erzählte), hatte ihn eine Art hektischer guter Laune erfasst, die ihm gar nicht ähnlich sah. Man hätte beinahe glauben können, er sei krank und befinde sich hart am Rande eines Deliriums.
Die Bitte des Revolvermanns schien Joe Collins zu überraschen, aber keineswegs zu missfallen. »Großer Gott«, sagte er. »Mir kommt’s vor, als war ich schon seit tausend Jahren nicht mehr als Komiker aufgetreten … und wenn ich überlege, wie die Zeit sich hier vor einer Weile verändert hat, waren es vielleicht auch tausend. Ich weiß gar nicht recht, wo ich anfangen soll.«
Zur eigenen Überraschung hörte Susannah sich sagen: »Versuchen Sie’s einfach.«
8
Joe überlegte eine Weile, stand dann auf und wischte sich ein paar verirrte Krümel vom Hemd. Er hinkte in die Mitte des Raums, wobei er den Stock am Sessel zurückließ. Oy sah mit gespitzten Ohren und dem alten teuflischen Grinsen zu ihm auf, als freute er sich schon riesig auf das kommende Vergnügen. Joe wirkte einen Augenblick lang unsicher. Dann holte er tief Luft, atmete aus und bedachte sie mit einem Lächeln. »Versprecht mir, dass ihr keine Tomaten schmeißt, wenn ich schlecht bin«, sagte er. »Denkt daran, dass alles schon verdammt lang her ist.«
»Auf den Mann, der uns aufgenommen und verköstigt hat?«, sagte Susannah. »Nie im Leben!«
Roland, der immer alles wörtlich nahm, fügte hinzu: »Außerdem haben wir keine Tomaten.«
»Klar, klar. In der Speisekammer stehen allerdings welche in Dosen … Vergesst, dass ich das gesagt habe!«
Susannah lächelte. Roland ebenfalls. Dadurch ermutigt, sagte Joe: »Okay, gehen wir zu jenem magischen Ort namens Jango’s in jener magischen Stadt zurück, die manche Leute den ›Fehler am See‹ nennen. Mit anderen Worten nach Cleveland, Ohio. Zweite Show. Die eine, die ich nie zu Ende bringen konnte, und ich war schwer in Fahrt, das könnt ihr mir glauben. Augenblick noch …«
Er schloss die Augen. Schien sich zu sammeln. Als er sie wieder öffnete, wirkte er zehn Jahre jünger. Eine erstaunliche Verwandlung. Und er klang nicht nur wie ein Amerikaner, als er zu sprechen begann, sondern sah auch wie einer aus. Susannah hätte das nicht mit Worten ausdrücken können, aber sie wusste, dass es stimmte: Hier stand eindeutig Joe Collins, Made in U.S.A.
»He, Ladys und Gentlemen, willkommen bei Jango’s, ich bin Joe Collins, und ihr seid’s nicht.«
Roland lachte halblaut, und Susannah lächelte aus reiner Höflichkeit – das war ein ziemlich alter Witz.
»Der Wirt hat mich gebeten, euch daran zu erinnern, dass es heute Abend für einen Dollar zwei Biere gibt. Verstanden? Gut. Bei ihm ist das Motiv Gewinnsucht, bei mir Eigennutz. Je mehr ihr trinkt, desto witziger werde ich nämlich.«
Susannahs Lächeln wurde breiter. Auftritte von Komikern hatten einen bestimmten Rhythmus, das wusste sogar sie, obwohl sie selbst keine fünf Minuten vor einem lauten Nachtclubpublikum hätte auftreten können, auch nicht dann, wenn ihr Leben davon abgehangen hätte. Es gab einen Rhythmus , und nach einem unsicheren Anfang begann Joe seinen zu finden. Er hatte die Augen halb
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