Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
zu haben. Das gilt natürlich auch für die Monogamie. Bing!«
Wenn Roland noch hemmungsloser lacht, dachte Susannah, rutscht er bestimmt gleich aus dem Sessel in die Lache aus verschüttetem Kaffee.
»Dann gibt’s da noch die Scheidung, ein juristischer Begriff, der ›die Genitalien eines Mannes durch die Geldbörse rausreißen‹ bedeutet. – Aber ich war vorhin bei Cleveland, stimmt’s? Wisst ihr, wie Cleveland gegründet worden ist? Ein paar Leute in New York haben gesagt: ›Mann, Kriminalität und Armut machen mir zwar allmählich irgendwie Spaß, aber trotzdem ist’s mir hier nicht ganz kalt genug. Auf nach Westen!‹«
Lachen, das überlegte Susannah sich später, war wie ein Wirbelsturm: Ab einem gewissen Punkt verstärkte es sich von allein, genügte es sich selbst. Man lachte nicht mehr, weil die Witze komisch waren, sondern weil der eigene Zustand komisch war. Und genau in diesen Zustand brachte Joe Collins sie mit seiner nächsten Pointe.
»He, wisst ihr noch, wies in der Grundschule immer hieß, im Brandfall müsstet ihr euch, ohne Radau zu machen, so aufstellen, dass die Kleinsten in der Schlange vorn und die Größten hinten stehen? Welche Logik steckt dahinter? Brennen große Leute langsamer?«
Susannah kreischte vor Lachen und schlug sich die Hände vors Gesicht. Das erzeugte einen plötzlichen und unerwartet heftigen Schmerz, der sie für einen Augenblick alles Lachen vergessen ließ. Das Geschwür neben ihrer Unterlippe war zwar wieder größer geworden, aber es hatte seit zwei, drei Tagen nicht mehr geblutet. Mit einer der vors Gesicht geschlagenen Hände hatte sie es getroffen und gleichzeitig den schwarzroten Schorf, mit dem es bedeckt gewesen war, abgekratzt. Das Geschwür blutete nicht etwa nur; es verspritzte geradezu Blut.
Im ersten Augenblick registrierte sie gar nicht, was eben passiert war. Sie wusste nur, dass dieser Schlag ins Gesicht weit schmerzhafter war, als er eigentlich hätte sein dürfen. Auch Joe schien nichts zu merken (er hielt die Augen jetzt die meiste Zeit geschlossen), konnte es nicht wahrgenommen haben, weil er jetzt immer schneller weiterrappte: »He, und was ist mit dem Fischrestaurant, das sie in Sea World haben? Ich war halb mit meinem Fishburger fertig, als ich mich gefragt habe, ob ich da wohl einen Lernschwachen esse! Bing! Und weil wir gerade bei Fisch sind …«
Oy kläffte besorgt. Susannah fühlte plötzlich, wie ihr etwas Warmes den Hals hinunterlief und auf die Schulter tropfte.
»Halt, Joe«, sagte Roland. Seine Stimme klang atemlos. Schwach. Vor Lachen, wie Susannah annahm. Oh, aber ihre linke Gesichtshälfte schmerzte, und …
Joe öffnete die Augen und wirkte ärgerlich. »Was denn? Herrgott, ihr wolltet’s hören, und ich hab’s euch gegeben!«
»Susannah hat sich verletzt.« Der Revolvermann war aufgestanden und betrachtete ihr Gesicht. Sein hemmungsloses Lachen war Besorgnis gewichen.
»Ich bin nicht verletzt, Roland, ich hab mir nur die Hände etwas fester vors Gesicht geschlagen, als ich …« Dann sah sie ihre Hand an und stellte erschrocken fest, dass sie einen roten Handschuh trug.
9
Oy kläffte noch einmal. Roland schnappte sich die Serviette, die neben seiner umgekippten Kaffeetasse lag. Ein Ende war vom Kaffee braun und feucht, aber das andere war trocken. Er drückte es auf das heftig blutende Geschwür, und Susannah musste im ersten Augenblick vor der Berührung zurückzucken. Ihre Augen füllten sich unwillkürlich mit Tränen.
»Nay, ich muss dafür sorgen, dass die Blutung aufhört«, murmelte Roland. Er hielt ihren Kopf fest, wobei er sanft in die dichte Kappe ihrer Locken griff. »Halt still.« Und für ihn schaffte sie es auch, das zu tun.
Soweit Susannah mit tränenden Augen erkennen konnte, war Joe anscheinend noch immer sauer, dass sie seinen Auftritt als Komiker auf so drastische Art und Weise (von besudelnd ganz zu schweigen) unterbrochen hatte, und sie konnte ihm das in gewisser Weise nicht verübeln. Er hatte sich aufrichtig Mühe gegeben; dann war sie gekommen und hatte ihm alles vermasselt. Abgesehen von den Schmerzen, die jetzt etwas nachließen, war sie schrecklich verlegen, weil die ganze Szene sie daran erinnerte, wie sie ihre erste Periode ausgerechnet im Turnunterricht bekommen hatte, wobei ihr ein kleines Rinnsal aus Blut für alle Welt sichtbar – zumindest für die, mit der sie in der dritten Stunde Turnen hatte – den Oberschenkel hinuntergelaufen war. Einige der Mädchen hatten
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