Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
daran glaubte er inzwischen fest, aber Julio war Tierarzt, und vor einem Tierarzt wollte man doch nichts Dummes sagen. Er würde nur lachen und sagen: Verflucht, ich habe diese Scheiße schon tausendmal gesehen, Junge. Nimm dir ein Handtuch und wisch dir das Nasse hinter den Ohren ab, weil es dir schon am Gesicht runtertropft.
Aber offensichtlich hatte Julio es nicht schon tausendmal gesehen, und das war gut, denn George wollte darüber reden.
»Sie ist tatsächlich unheimlich. Als wäre sie zwei Menschen.«
Er stellte zu seinem Erstaunen fest, daß Julio jetzt derjenige war, der erleichtert aussah, und war von plötzlicher Scham erfüllt. Julio Estavez, der den Rest seines Lebens nichts anderes machen würde, als eine Limousine mit rotem Blinklicht auf dem Dach zu fahren, hatte mehr Mut bewiesen, als er selbst hätte aufbringen können.
»Du hast’s erfaßt, Doc. Hunnert Prozent.« Er nahm eine Packung Chesterfield heraus und steckte sich eine in den Mund.
»Die Dinger werden dich umbringen, Mann«, sagte George.
Julio nickte und hielt ihm die Packung hin.
Sie rauchten eine Weile schweigend. Die Helfer jagten möglicherweise wirklich Freiwild, wie Julio gesagt hatte… oder sie hatten ganz einfach die Schnauze voll. George hatte Angst gehabt, das war kein Witz gewesen. Aber er wußte auch, daß er derjenige war, der die Frau gerettet hatte, und nicht die Arzthelfer, und er wußte, daß Julio das auch wußte. Vielleicht war das der wahre Grund, weshalb Julio gewartet hatte. Die alte schwarze Frau hatte geholfen, und der weiße Junge ebenfalls, der die Bullen angerufen hatte, während alle anderen (ausgenommen die schwarze Frau) herumgestanden und zugesehen hatten, als wäre alles ein gottverdammter Film oder eine Fernsehsendung gewesen, eine Episode von Peter Gunn vielleicht, aber letztendlich war alles auf George Shavers angekommen, eine verängstigte Katze, die, so gut es ging, ihre Pflicht tat.
Die Frau hatte auf den Zug gewartet, auf den Duke Ellington so große Stücke hielt – den legendären A-Zug. Sie war nur eine hübsche, junge schwarze Frau in Jeans und einem Khakihemd gewesen, die auf den legendären A-Zug gewartet hatte, damit sie irgendwohin in die Stadt gehen konnte.
Jemand hatte sie gestoßen.
George Shavers hatte nicht die leiseste Ahnung, ob die Polizei den Dreckskerl erwischt hatte, der es gewesen war – das war nicht seine Sache. Seine Sache war die Frau, die schreiend vor dem legendären A-Zug auf die Schienen gestürzt war. Es war ein Wunder, daß sie das dritte Gleis verfehlt hatte; das legendäre dritte Gleis, das mit ihr gemacht hätte, was der Staat New York droben in Sing-Sing mit den bösen Buben macht, die eine Freifahrt auf dem legendären A-Zug bekamen, den man Old Sparky nannte.
Mann o Mann, das Wunder der Elektrizität.
Sie hatte versucht, aus dem Weg zu kriechen, aber sie hatte nicht genügend Zeit gehabt, und der legendäre A-Zug war quietschend und kreischend in die Haltestelle eingefahren, und er hatte Funken gesprüht, weil der Fahrer sie gesehen hatte, aber es war zu spät für ihn und zu spät für sie. Die Stahlräder des legendären A-Zuges hatten ihr direkt über den Knien die Beine abgeschnitten. Und während alle anderen nur dagestanden und die Patschhändchen gezogen hatten (oder die Genitalien gerieben, vermutete George) war die ältere Frau hinuntergesprungen, wobei sie sich die Hüfte ausgerenkt hatte (der Bürgermeister verlieh ihr später eine Tapferkeitsmedaille), und hatte mit ihrem Kopftuch ein Bein der jungen Frau abgebunden. Der junge weiße Bursche schrie auf einer Seite der Haltestelle nach einem Krankenwagen, und die alte Dame schrie auf der anderen Seite, jemand möge ihr helfen, jemand möge ihr um Himmels willen eine Krawatte geben, etwas, irgend etwas, und schließlich hatte ihr ein älterer weißer Geschäftsmann widerwillig seinen Gürtel gegeben, und die ältere Dame hatte aufgesehen und die Worte gesprochen, die am nächsten Tag als Schlagzeile der New York Daily News erscheinen sollten, die Worte, die sie zu einer authentischen amerikanischen Heldin machten: »Danke, Bruder.« Dann hatte sie den Gürtel um das linke Bein der jungen Frau geschlungen, auf halbem Weg zwischen Schritt und der Stelle, wo ihr Knie gewesen war, bevor der legendäre A-Zug gekommen war.
George hatte jemanden sagen hören, die letzten Worte der schwarzen Frau, bevor sie das Bewußtsein verlor, wären gewesen: »WER WAR DIESER WICHSAH? ICH WERD IHN JAGEN UND
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