Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Schmerzen etwas hilft. Aber es war kurz vor Mitternacht, und ich habe mir gedacht, ich sehe zuerst die Nachrichten an. Viele von uns waren freigelassen worden, aber als ich ging, waren viele auch noch im Knast. Ich wollte herausfinden, ob sie auch freigelassen worden waren.
Ich habe mich abgetrocknet, den Bademantel angezogen und bin ins Wohnzimmer gegangen. Ich habe die Fernsehnachrichten eingeschaltet. Der Nachrichtensprecher begann mit dem Bericht über eine Rede, die Chruschtschow gerade gehalten hatte, über die amerikanischen Militärberater in Vietnam. Er sagte: ›Wir haben eine Filmaufnahme aus…‹ und dann war er verschwunden, und ich rollte auf diesen Strand. Du hast gesagt, du hättest mich in einer magischen Tür gesehen, die jetzt verschwunden ist, und ich wäre in Macy’s gewesen und hätte gestohlen. Das alles ist schon lächerlich genug, aber selbst wenn es so wäre, könnte ich etwas Besseres stehlen als Modeschmuck. Ich trage überhaupt keinen Schmuck.«
»Du solltest besser einmal deine Hände ansehen, Odetta«, sagte Eddie leise.
Sie betrachtete den ›Diamanten‹ am linken kleinen Finger sehr lange – zu vulgär und groß, um etwas anderes als Tand zu sein –, dann den Opal am dritten Finger ihrer rechten Hand – zu groß und vulgär, um etwas anderes als real zu sein.
»Nichts von alledem geschieht wirklich«, sagte sie bestimmt.
»Du hörst dich an wie eine Schallplatte mit Sprung!« Er war zum erstenmal richtig wütend. »Jedesmal, wenn jemand ein Loch in deine hübsche kleine Geschichte bohrt, kommst du mit deiner Nichts-geschieht-wirklich-Scheiße daher. Du mußt es endlich einsehen, Detta.«
»Nenn mich nicht so! Das hasse ich!« kreischte sie so schrill, daß Eddie zurückschreckte.
»Tut mir leid. Mein Gott. Konnte ich doch nicht wissen.«
»Es war Nacht, und nun ist es Tag – ich war unbekleidet, und jetzt bin ich angezogen, ich kam von meinem Wohnzimmer zu diesem verlassenen Strand. Und in Wirklichkeit hat mir ein fettwanstiger feister Spießerdeputy mit einer Keule auf den Kopf geschlagen, und das ist alles!«
»Aber deine Erinnerungen hören nicht in Oxford auf«, sagte er behutsam.
»W-Was?« Wieder Unsicherheit. Vielleicht sah sie es auch und wollte es nicht sehen. Wie bei den Ringen.
»Wenn du in Oxford eine verpaßt bekommen hast, wie kommt es dann, daß deine Erinnerungen nicht dort aufhören?«
»In solchen Dingen waltet nicht immer die Logik.« Sie rieb sich wieder die Schläfen. »Und wenn es dir nichts ausmacht, Eddie, würde ich diese Unterhaltung jetzt gerne beenden. Meine Kopfschmerzen sind wieder da. Ziemlich schlimm.«
»Ich schätze, ob Logik im Spiel ist oder nicht, hängt davon ab, was man glauben will. Ich habe dich in Macy’s gesehen, Odetta. Ich habe dich beim Stehlen gesehen. Du hast mir gesagt, du machst so etwas nicht, aber du hast auch gesagt, du trägst keinen Schmuck. Das hast du mir gesagt, obwohl du beim Reden mehrmals auf deine Hände gesehen hast. Die Ringe waren die ganze Zeit da, aber es war, als konntest du sie nicht sehen, bis ich deine Aufmerksamkeit darauf gelenkt und dich gezwungen habe, sie zu sehen.«
»Ich will nicht darüber reden!« brüllte sie. »Ich habe Kopfschmerzen!«
»Schon gut. Aber du weißt, wo du den Überblick über die Zeit verloren hast, und das war nicht in Oxford.«
»Laß mich in Ruhe«, sagte sie mürrisch.
Eddie sah, wie der Revolvermann mit zwei vollen Wasserschläuchen zurückkam, einen hatte er um die Taille, den anderen über die Schulter geworfen. Er sah sehr müde aus.
»Wenn ich dir nur helfen könnte«, sagte Eddie. »Aber um das zu tun, müßte ich wohl wirklich sein.«
Er stand einen Augenblick neben ihr, aber sie hatte den Kopf gesenkt, und ihre Fingerspitzen massierten unablässig die Schläfen.
Eddie ging Roland entgegen.
8
»Setz dich.« Eddie nahm die Schläuche. »Du siehst fix und fertig aus.«
»Bin ich. Ich werde wieder krank.«
Eddie betrachtete die geröteten Wangen und Stirn des Revolvermanns, die aufgesprungenen Lippen, und nickte. »Ich hatte gehofft, daß es anders kommen würde, aber es überrascht mich eigentlich nicht, Mann. Du hast den Zyklus durchbrochen. Balazar hatte nicht genügend Keflex.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Wenn du das Penizillin nicht lange genug nimmst, tötest du die Infektion nicht ab. Du verdrängst sie einfach. Nach wenigen Tagen kommt sie zurück. Wir brauchen mehr, aber wir haben ja noch eine Tür. Bis dahin wirst du dich
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