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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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komischen Holzsporn aus einem frischen Stumpf herausragen sehen. Ein unheimliches Gefühl – er vermutete, es war das, was die Leute déjà vu nannten – kam über ihn, und er betrachtete den Sporn, der wie ein unzulänglich geformter Türgriff aussah. Er merkte am Rande, daß sein Mund trocken geworden war.
    Nach mehreren Sekunden wurde ihm klar, daß er den Sporn betrachtete, der aus dem Stumpf ragte, aber an den Hof hinter dem Haus dachte, wo er und Henry gewohnt hatten – er dachte daran, wie sich der warme Beton unter seinem Hintern anfühlte, und an den üblen Gestank des Abfalls in der Tonne um die Ecke. In dieser Erinnerung hielt er ein Stück Holz in der linken Hand und ein Tranchiermesser aus der Schublade in der Spüle in der rechten. Der Holzsporn, der aus dem Stumpf ragte, hatte die Erinnerung an jene kurze Zeit heraufbeschworen, als das Schnitzen seine ganze Liebe gewesen war. Diese Erinnerung war lediglich so tief begraben gewesen, daß er anfangs gar nicht gewußt hatte, worum es sich handelte.
    Beim Schnitzen am meisten gefallen hatte ihm das Sehen, das stattfand, bevor man überhaupt anfing. Manchmal sah man ein Auto oder einen Laster. Manchmal einen Hund oder eine Katze. Einmal, fiel ihm ein, war es das Gesicht eines Götzen gewesen – einer der unheimlichen Monolithen der Osterinsel, die er in der Schule in einer Ausgabe des National Geographie gesehen hatte. Das war gut gewesen. Man mußte nur herausfinden, wieviel von dem Betreffenden man aus dem Holz herausholen konnte, ohne es zu zerbrechen. Man bekam nie alles heraus, aber wenn man vorsichtig genug zu Werke ging, manchmal doch eine ganze Menge.
    In diesem Sporn an der Seite des Stumpfes steckte eine ganze Menge. Er glaubte, mit Rolands Messer könnte man einen Großteil davon herausholen – es war das schärfste, handlichste Werkzeug, das er jemals benützt hatte.
    Etwas in diesem Holz wartete geduldig auf jemand – jemand wie ihn! –, der des Weges kam und es herausließ. Es befreite.
    Oh, seht euch die Memme an! Was machst’n heute, Memme? Ein Puppenhaus? Einen Pißpott für deinen itzibitzi Minipiller? Eine Schlinge, daß du so tun kannst, als würdest du Kaninchen fangen wie die großen Jungs? Ohhh… ist das nicht NIEDLICH?
    Er verspürte eine Aufwallung von Scham, ein Gefühl, als wäre es falsch; den Eindruck, als müßten Geheimnisse um jeden Preis gewahrt werden, und dann fiel ihm – wieder einmal – ein, daß Henry Dean, der in späteren Jahren der große Weise und bedeutende Junkie wurde, ja tot war. Diese Erkenntnis hatte ihre Kraft zu überraschen immer noch nicht eingebüßt; sie setzte ihm auf unterschiedliche Weise zu, manchmal mit Traurigkeit, manchmal mit Schuldgefühlen, manchmal mit Zorn. An diesem Tag, zwei Tage bevor der große Bär aus den grünen Korridoren des Waldes gestürmt war, überkam es ihn auf die überraschendste Weise von allen. Er verspürte Erleichterung und jauchzende Freude.
    Er war frei.
    Eddie hatte sich Rolands Messer ausgeliehen. Er benützte es, um den vorstehenden Holzsporn vorsichtig herauszutrennen, dann kam er damit zurück, setzte sich unter einen Baum und drehte ihn hierhin und dorthin. Er sah nicht darauf, er sah hinein.
    Susannah war mit dem Kaninchen fertig. Das Fleisch wanderte in den Kochtopf über dem Feuer, das Fell wurde zwischen zwei Stöcken gespannt, an denen sie es mit Wildlederschnüren aus Rolands Tasche festbanden. Später, nach dem Abendessen, würde Eddie damit anfangen, es sauberzuschaben. Sie benützte Hände und Arme und robbte mühelos zu der Stelle, wo Eddie mit dem Rücken am Stamm einer hohen, alten Pinie saß. Beim Lagerfeuer krümelte Roland einige geheimnisvolle – und zweifellos köstliche – Waldkräuter in den Kochtopf. »Was machst du da, Eddie?«
    Eddie hatte dem absurden Impuls widerstanden, den Holzsporn hinter dem Rücken zu verstecken. »Nichts«, sagte er. »Aber weißt du, vielleicht schnitze ich etwas.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Aber ich bin nicht besonders gut.« Er hörte sich an, als wollte er sie unbedingt davon überzeugen.
    Sie hatte ihn verwirrt angesehen. Einen Augenblick schien sie im Begriff, etwas zu sagen, dann zuckte sie nur die Achseln und ließ ihn in Ruhe. Sie hatte keine Ahnung, warum Eddie sich zu schämen schien, daß er die Zeit mit einer kleinen Schnitzerei totschlug – ihr Vater hatte das ständig gemacht –, aber sie ging davon aus, wenn man darüber reden mußte, würde Eddie es schon zu gegebener Zeit

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