Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Rose! Siehe! Siehe die Öffnung des Wegs zum Turm!
Ein belegtes Husten ertönte aus dem Feuer. Ein Fächer aus Funken stob in die Höhe. Susannah schrie, rollte sich weg und schlug auf die orangefarbenen Flecken auf ihrem Kleid ein, während die Flammen zum Sternenhimmel emporloderten. Eddie bewegte sich nicht. Er saß gebannt vor seiner Vision da, in einer Wiege des Staunens, die prachtvoll und schrecklich zugleich war, und er achtete nicht auf die Funken, die über seine Haut tanzten. Dann sanken die Flammen in sich zusammen.
Der Knochen war fort.
Der Schlüssel war fort.
Die Rose war fort.
Vergiß nicht, dachte er. Vergiß nicht die Rose… und vergiß nicht die Form des Schlüssels.
Susannah schluchzte vor Schreck und Entsetzen, aber er achtete einen Augenblick nicht auf sie und suchte den Zweig, mit dem er und Roland gezeichnet hatten. Mit einer zitternden Hand malte er dieses Muster in den Sand:
18
»Warum hast du das gemacht?« fragte Susannah schließlich. »Warum um Gottes willen – und was war es?«
Fünfzehn Minuten waren vergangen. Sie hatten das Feuer niederbrennen lassen; die verstreuten Schlackestücke waren von alleine ausgegangen. Eddie hatte die Arme um seine Frau geschlungen: Susannah saß vor ihm und lehnte mit dem Rücken an seiner Brust. Roland hockte auf der Seite, hatte die Knie an die Brust gezogen und sah versonnen in die orangeroten Kohlen. Soweit Eddie sagen konnte, hatte keiner der beiden gesehen, wie sich der Knochen verändert hatte. Sie hatten beide gesehen, wie er rotglühend geworden war, und Roland hatte ihn explodieren sehen (oder war er implodiert? Eddie fand, daß das eher zutreffend war), aber das war alles. Glaubte er jedenfalls; doch manchmal behielt Roland etwas für sich, und wenn er beschloß, mit verdeckten Karten zu spielen, dann tat er das konsequent. Das wußte Eddie aus bitterer Erfahrung. Er hatte überlegt, ob er ihnen sagen sollte, was er gesehen hatte – oder gesehen zu haben glaubte –, beschloß dann aber, zumindest vorläufig ebenfalls mit total verdeckten Karten zu spielen.
Von dem Kieferknochen selbst war keine Spur mehr übrig – nicht einmal ein Splitter.
»Ich habe es getan, weil mir eine innere Stimme gesagt hat, daß ich es muß«, sagte Roland. »Es war die Stimme meines Vaters; aller meiner Väter. Wenn man so eine Stimme hört, ist es undenkbar, nicht zu handeln, und zwar sofort. Das hat man mir beigebracht. Was es war, das kann ich nicht sagen… zumindest jetzt nicht. Ich weiß nur, daß der Knochen sein letztes Wort gesprochen hat. Ich habe ihn den ganzen Weg mitgeschleppt, um es zu hören.«
Oder zu sehen, dachte Eddie, und dann wieder: Vergiß nicht. Vergiß nicht die Rose. Und vergiß nicht die Form des Schlüssels.
»Es hätte uns fast gegrillt!« Sie hörte sich müde und verdrossen zugleich an.
Roland schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es war mehr wie das Feuerwerk, das die Barone anläßlich ihrer Jahresabschlußpartys in den Himmel zu schießen pflegten. Bunt und grell, aber nicht gefährlich.«
Eddie hatte eine Idee. »Die Verdoppelung in deinem Verstand, Roland, ist sie fort? Ist sie von dir gewichen, als der Knochen explodiert ist, oder was auch immer?«
Er war fast davon überzeugt; in den Filmen, die er gesehen hatte, wirkte so eine Schocktherapie immer. Aber Roland schüttelte den Kopf.
Susannah regte sich in Eddies Armen. »Du hast gesagt, du fängst an zu verstehen.«
Roland nickte. »Ich glaube, ja. Wenn ich recht habe, habe ich Angst um Jake. Wo immer er ist, wann immer er ist, ich habe Angst um ihn.«
»Was meinst du damit?« fragte Eddie.
Roland stand auf, ging zu seiner Rolle aus Fellen und breitete sie aus. »Genug Geschichten und Aufregung für eine Nacht. Zeit zu schlafen. Morgen folgen wir der Spur des Bären zurück und versuchen, ob wir das Portal finden können, das er bewachen sollte. Unterwegs werde ich euch erzählen, was meiner Meinung nach passiert ist… und immer noch passiert.«
Damit wickelte er sich in eine alte Decke und eine neue Hirschhaut, rollte sich vom Feuer weg und sagte kein Wort mehr.
Eddie und Susannah legten sich gemeinsam hin. Als sie sicher waren, daß der Revolvermann schlief, liebten sie sich. Roland hörte sie dabei, während er wach lag, und hörte ihre leise Unterhaltung danach. Größtenteils über ihn. Er lag still und starrte mit offenen Augen in die Dunkelheit, als ihre Unterhaltung schon längst vorbei war und ihre Atemzüge eine ruhige,
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