Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
und es abschaltet.
Seine Wahrnehmung des mehr oder weniger wirklichen Lebens als Junge in New York City wurde immer löchriger, während das schreckliche Schisma sich immer weiter vertiefte. Er konnte sich erinnern, wie er zur Schule ging, am Wochenende ins Kino, vor einer Woche zu einem Sonntagsbrunch mit seinen Eltern (oder waren es zwei?), aber er erinnerte sich so daran, wie ein Mann, der an Malaria erkrankt ist, sich an die tiefste, dunkelste Phase seiner Krankheit erinnern mag: Menschen wurden zu Schatten, Stimmen schienen zu hallen und einander zu überlagern, und selbst so einfache Handlungen wie ein Sandwich zu essen oder eine Cola aus dem Automaten in der Sporthalle zu holen wurden zu einer Anstrengung. Jake schritt in einer Fuge doppelter Erinnerungen und brüllender Stimmen durch diese Tage. Er wurde zunehmend von Türen besessen – allen möglichen Türen; die Hoffnung, die Welt des Revolvermannes könnte hinter einer davon liegen, wich nie ganz von ihm. Was auch keineswegs so seltsam war, denn es war die einzige Hoffnung, die er noch besaß.
Aber heute war das Spiel vorbei. Eigentlich hatte er sowieso nie eine richtige Gewinnchance gehabt. Er hatte aufgegeben. Er war ausgerissen. Jake ging durch das Gitter der Straßen blindlings Richtung Osten, hielt den Kopf gesenkt und hatte keine Ahnung, wohin er ging und was er tun würde, sollte er dort ankommen.
9
Gegen neun Uhr erwachte er aus seiner unglücklichen Benommenheit und nahm ein wenig Notiz von seiner Umgebung. Er stand an der Ecke Lexington Avenue und Fifty-fourth Street und konnte sich überhaupt nicht erinnern, wie er dorthin gelangt war. Er bemerkte zum erstenmal, daß es ein atemberaubend schöner Tag war. Der 7. Mai, der Tag, an dem sein Wahnsinn angefangen hatte, war schön gewesen, aber heute war es zehnmal schöner – ein Tag, an dem der Frühling dem Sommer begegnet: kräftig und stattlich, mit einem schiefen Grinsen im braungebrannten Gesicht. Die Sonne spiegelte sich grell in den Scheiben der Innenstadthäuser; der Schatten eines jeden Fußgängers war schwarz und scharf umrissen. Der Himmel oben hatte eine makellos blaue Färbung, die nur hier und da mit weißen Schönwetterwölkchen meliert war.
Ein Stück entfernt standen zwei Geschäftsleute in teuren, maßgeschneiderten Anzügen an einem Bretterzaun, der um eine Baustelle herum errichtet worden war. Sie lachten und reichten etwas hin und her. Jake ging neugierig in ihre Richtung und sah, als er näher kam, daß die beiden Geschäftsleute Tic-Tac-Toe an dem Zaun spielten, wobei sie einen teuren Kugelschreiber von Mark Cross benützten, um das Gitter zu ziehen und die X und O zu markieren. Das fand Jake den absoluten Heuler. Als er bei ihnen war, machte einer ein O in der rechten oberen Ecke des Gitters und zog dann eine diagonale Linie durch die Mitte.
»Schon wieder ausgetrickst!« sagte sein Freund. Dann nahm dieser Mann, der wie ein hochkarätiger leitender Angestellter oder Anwalt von Börsenmaklern aussah, den Mark-Cross-Stift an sich und zeichnete ein neues Gitter.
Der erste Geschäftsmann, der Sieger, sah nach links und erblickte Jake. Er lächelte. »Toller Tag, Junge, was?«
»Kann man wohl sagen!« sagte Jake und stellte zu seinem Entzücken fest, daß ihm jedes Wort ernst war.
»Zu schön für die Schule, hm?«
Diesmal lachte Jake wirklich. Die Piper School, wo man eine Freizeit hatte statt einer Mittagspause und wo man ab und zu austreten mußte, und nicht etwa scheißen, schien plötzlich weit, weit entfernt und unwichtig. »So ist es.«
»Möchtest du ein Spiel machen? Billy hier konnte mich in der fünften Klasse schon nicht schlagen und kann es bis heute nicht.«
»Laß den Jungen in Ruhe«, sagte der zweite Geschäftsmann und hielt den Mark-Cross-Schreiber von sich. »Diesmal bist du verloren.« Er blinzelte Jake zu, und Jake war über sich selbst erstaunt, als er zurückblinzelte. Er ging weiter und überließ die beiden Männer ihrem Spiel. Das Gefühl, daß etwas unvorstellbar Wunderbares passieren würde – vielleicht sogar schon angefangen hatte –, wurde immer stärker, und er hatte den Eindruck, als würden seine Füße schon gar nicht mehr den Boden berühren.
Das grüne Männchen an der Ecke leuchtete auf, und er überquerte die Lexington Avenue. Mitten auf der Straße blieb er so unvermittelt stehen, daß ein Botenjunge auf einem Zehngangrad ihn beinahe überfuhr. Es war ein herrlicher Frühlingstag – zugegeben. Aber deswegen
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