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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Forty-ninth und Forty-eighth kam er an einem Geschäft mit Namen Reflections of You – Dein Spiegelbild – vorbei. Er drehte den Kopf und erblickte ein Dutzend Jakes in den Spiegeln, wie er es vorhergesehen hatte – ein Dutzend Jungs, die klein für ihr Alter waren, ein Dutzend Jungs in adretten Schuluniformen: blauer Blazer, weißes Hemd, dunkelrote Krawatte, graue Bundfaltenhose; die Piper School besaß keine offizielle Uniform.
    Piper schien jetzt lange her und weit entfernt zu sein.
    Plötzlich wurde Jake klar, wohin er unterwegs war. Dieses Wissen stieg in seinem Verstand empor wie Wasser aus einer unterirdischen Quelle. Es ist ein Delikatessengeschäft, dachte er. Jedenfalls sieht es so aus. In Wirklichkeit ist es etwas anderes – eine Tür zu einer anderen Welt. Der Welt. Seiner Welt. Der richtigen Welt.
    Er fing an zu laufen und sah erwartungsvoll geradeaus. Die Ampel an der Forty-seventh war gegen ihn, aber er schenkte ihr einfach keine Beachtung, sprang vom Bordstein und sauste mit nur einem oberflächlichen Blick nach links über die weißen Streifen des Fußgängerüberwegs. Ein Klempnerlastwagen hielt mit quietschenden Reifen, als Jake vor das Auto lief.
    »He! Wassollndas? Wassollndas?« schrie der Fahrer, aber Jake achtete nicht auf ihn.
    Nur noch ein Block.
    Jetzt fing er regelrecht an zu sprinten. Die Krawatte flatterte über seiner linken Schulter; das Haar wehte ihm aus der Stirn, seine Schulschuhe hämmerten auf den Gehweg. Er achtete nicht auf die Blicke der Passanten – manche amüsiert, manche nur neugierig –, ebenso wie er den erbosten Schrei des Lastwagenfahrers mißachtet hatte.
    Da vorne – da vorne an der Ecke. Neben dem Schreibwarenladen.
    Da kam ein Bote von UPS in brauner Uniform, der einen Sackkarren voll Päckchen schob. Jake wich ihm mit ausgestreckten Armen wie ein Hürdenläufer aus. Ein Zipfel seines Hemds rutschte aus dem Hosenbund und flatterte unter dem Blazer. Er setzte wieder auf und stieß beinahe mit einem Kinderwagen zusammen, den eine junge Puertoricanerin schob. Jake schlug einen Haken um den Wagen wie ein ›Halfback‹, der ein Loch in der Abwehr entdeckt hat und in die Geschichte eingehen will. »Wo brennt’s denn, Hübscher?« fragte die junge Frau, aber Jake achtete auch nicht auf sie. Er rannte am Paper Patch mit dem Schaufenster voller Stifte, Notizbücher und Taschenrechner vorbei.
    Die Tür! dachte er ekstatisch. Ich werde sie sehen! Und werde ich zögern? Auf keinen Fall! Ich werde durchpreschen, und wenn sie verschlossen ist, walze ich sie einfach nieder…
    Dann sah er, was sich an der Ecke Second und Forty-sixth befand und blieb doch stehen – er kam sozusagen auf den Absätzen seiner Schuhe schlitternd zum Stillstand. Er stand mitten auf dem Gehweg, hatte die Fäuste geballt, und der Atem entwich rasselnd aus seinen Lungen, während ihm das Haar in verschwitzten Strähnen in die Stirn fiel.
    »Nein«, winselte er fast. »Nein!« Aber seine beinahe panische Verneinung änderte nicht, was er sah, und das war überhaupt nichts. Es gab nichts zu sehen, außer einem kurzen Bretterzaun und einem abfallübersäten, unkrautüberwucherten Stück Brachland dahinter.
    Das Gebäude, das hier einmal gestanden hatte, war abgerissen worden.
     
     

16
     
    Jake stand fast zwei Minuten vor dem Zaun, ohne sich zu bewegen, und betrachtete das unbebaute Grundstück mit glanzlosen Augen. Ein Mundwinkel zuckte willkürlich. Er konnte spüren, wie seine Hoffnung – seine absolute Gewißheit – aus ihm wich. Das Gefühl, von dem sie verdrängt wurde, war die schwärzeste, bitterste Verzweiflung, die er jemals erlebt hatte.
    Wieder ein falscher Alarm, dachte er, als der Schock so weit abgeklungen war, daß er überhaupt wieder denken konnte. Wieder ein falscher Alarm, eine Sackgasse, ein ausgetrockneter Brunnen. Jetzt werden die Stimmen wieder loslegen, und wenn, fange ich bestimmt an zu schreien. Aber das macht nichts. Ich habe es nämlich satt, gegen das Ding anzukämpfen. Ich habe es satt, verrückt zu werden. Wenn es so ist, verrückt zu werden, will ich es nur schnell hinter mich bringen, damit mich jemand ins Krankenhaus bringt und mir etwas gibt, das mich umhaut. Ich gebe auf. Das ist das Ende des Seils – ich bin fertig.
    Aber die Stimmen kamen nicht wieder – jedenfalls noch nicht. Und als er darüber nachdachte, was er sah, stellte er fest, daß der Platz doch nicht völlig verwaist war. In der Mitte des abfallübersäten, unkrautüberwucherten Brachlands

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