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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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in Richtung Zuhause zurück.
     
     

19
     
    Der Türsteher mußte hinauftelefoniert haben, sobald Jake die Halle betreten hatte, denn sein Vater stand schon vor dem Fahrstuhl, als dieser im fünften Stock hielt. Elmer Chambers trug verwaschene Jeans und Cowboystiefel, die aus seinen eins fünfundachtzig einen Meter neunzig machten. Das schwarze Haar stand senkrecht zu einem Bürstenschnitt hoch; soweit Jake sich erinnern konnte, hatte sein Vater immer wie ein Mann ausgesehen, der gerade einen tüchtigen Elektroschock abbekommen hatte. Kaum war Jake aus dem Fahrstuhl getreten, packte Chambers ihn am Arm.
    »Schau dich bloß an!« Der Blick seines Vaters wanderte über ihn und nahm Jakes schmutziges Gesicht und Hände, das Blut, das auf Schläfen und Wangen trocknete, die staubigen Hosen, den zerrissenen Blazer und die Kletten in sich auf, die wie eine seltsame Nadel an Jakes Krawatte hafteten. »Komm sofort rein! Wo bist du gewesen? Deine Mutter ist völlig außer sich!«
    Ohne Jake eine Möglichkeit zur Antwort zu geben, zerrte er ihn durch die Tür der Wohnung. Jake sah Greta Shaw unter dem Bogen zwischen Eßzimmer und Küche stehen. Sie warf ihm einen Blick zurückhaltenden Mitgefühls zu, dann verschwand sie, bevor die Augen des »Herrn« auf sie fielen.
    Jakes Mutter saß im Schaukelstuhl. Sie stand auf, als sie Jake sah, aber sie sprang nicht auf; sie kam auch nicht durch die Diele gelaufen, damit sie ihn mit Küssen und Liebkosungen überhäufen konnte. Als sie auf ihn zukam, sah Jake ihr in die Augen und schätzte, daß sie seit Mittag mindestens drei Valium genommen hatte. Vielleicht vier. Seine Eltern glaubten beide, daß sich durch Chemikalien ein besseres Leben erreichen ließ.
    »Du blutest! Wo bist du gewesen?« Sie stellte diese Frage in ihrer kultiviertesten Vassar-Stimme und betonte das gewesen so, daß es sich auf Besen gereimt hätte. Sie hätte einen Bekannten begrüßen können, der in einen unbedeutenden Verkehrsunfall verwickelt war.
    »Aus«, sagte er.
    Sein Vater schüttelte ihn grob. Jake war nicht darauf vorbereitet. Er stolperte und trat auf den verstauchten Knöchel. Die Schmerzen loderten wieder auf, und mit einemmal war er wütend. Jake glaubte nicht, daß sein Vater wütend war, weil er die Schule verlassen und seinen versauten Aufsatz hinterlassen hatte; er war sauer, weil Jake die Frechheit besessen hatte, seinen eigenen, über die Maßen kostbaren Tagesablauf durcheinanderzubringen.
    Bis zu diesem Tag in seinem Leben konnte sich Jake an lediglich drei Gefühle gegenüber seinem Vater erinnern: Verwirrung, Angst und eine Abart schüchterner, verhaltener Liebe. Jetzt kamen ein Viertes und Fünftes dazu. Eines war Zorn, das andere Abscheu. Und in diese unangenehmen Empfindungen mischte sich nun noch ein Gefühl von Heimweh. Dies war momentan das gewaltigste in ihm; es zog sich durch alles hindurch wie Rauch. Er sah das rot angelaufene Gesicht und den Bürstenschnitt seines Vaters und wünschte sich, er wäre wieder auf dem Grundstück, würde die Rose sehen und den Chor hören. Dies ist nicht mein Zuhause, dachte er. Nicht mehr. Ich habe eine Aufgabe. Wenn ich nur wüßte, was für eine.
    »Laß mich los«, sagte er.
    »Was hast du zu mir gesagt?« Die blauen Augen seines Vaters wurden groß. Heute abend waren sie ziemlich blutunterlaufen. Jake vermutete, er hatte eine große Portion von seinem Zauberpulver zu sich genommen, und darum war es wahrscheinlich ein schlechter Zeitpunkt, ihm die Stirn zu bieten, aber Jake beschloß, es dennoch zu tun. Er würde sich nicht durchschütteln lassen wie eine Maus zwischen den Zähnen eines sadistischen Katers. Heute abend nicht. Vielleicht nie wieder. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß ein großer Teil seines Zorns einer einzigen Quelle entsprang: Er konnte nicht mit ihnen darüber reden, was passiert war – noch passierte. Sie hatten alle Türen zugeschlagen.
    Aber ich habe einen Schlüssel, dachte er und berührte diesen durch den Stoff seiner Hose hindurch. Und dann fiel ihm der Rest des seltsamen Gedichts ein: Willst du spielen, komm und lauf / Eins, zwei, drei, den BALKEN rauf.
    »Ich habe gesagt, laß mich los«, wiederholte er. »Ich habe mir den Knöchel verstaucht, und du tust mir weh.«
    »Dir wird gleich mehr als nur dein Knöchel weh tun, wenn du nicht…«
    Plötzlich strömte Kraft in Jake ein. Er ergriff die Hand, die seinen Arm unterhalb der Schulter umklammert hielt, und schubste sie heftig fort. Sein Vater sperrte den Mund

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