Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Prüfungen gearbeitet«, sagte er mit vollem Mund, »und ich denke, heute morgen ist mir einfach alles über den Kopf gewachsen. Ich war wie erstarrt. Ich mußte raus, sonst wäre ich erstickt.« Er berührte die trockene Blutkruste an der Stirn. »Und was das betrifft, sagen Sie meiner Mutter bitte, daß es wirklich nicht schlimm ist. Ich bin nicht überfallen worden oder so; es war nur ein dummer Unfall. Ein Mann von UPS hat einen Handwagen geschoben, und ich bin direkt dagegengelaufen. Der Schnitt ist nicht schlimm. Ich sehe nicht doppelt, und die Kopfschmerzen sind auch wieder weg.«
Sie nickte. »Ich kann mir vorstellen, wie es gewesen sein muß – so eine anspruchsvolle Schule. Du bist einfach ein bißchen durchgedreht. Das ist keine Schande, Johnny. Und du hast in den letzten drei Wochen wirklich einen seltsamen Eindruck gemacht.«
»Ich glaube, jetzt geht es wieder. Ich muß vielleicht meinen Abschlußaufsatz in Englisch neu schreiben, aber…«
»Oh!« sagte Mrs. Shaw. Ihr Gesicht nahm einen erschrockenen Ausdruck an. Sie legte Charlie Tschuff-Tschuff wieder auf Jakes Schreibtisch. »Das hätte ich fast vergessen! Dein Französischlehrer hat etwas für dich hier gelassen. Ich hole es dir!«
Sie ging aus dem Zimmer. Jake hoffte, daß Mr. Bissette sich keine Sorgen gemacht hatte, denn Mr. Bissette war ein netter Mann; aber er dachte sich, es mußte wohl so sein, da Mr. Bissette persönlich vorbeigeschaut hatte. Jake hatte so eine Ahnung, daß persönliches Erscheinen bei Lehrern der Piper School eine Seltenheit war. Er fragte sich, was Mr. Bissette dagelassen haben mochte. Er konnte nur vermuten, eine Einladung zu Mr. Hotchkiss, dem Seelenklempner der Schule. Das hätte ihm heute morgen angst gemacht, aber nicht heute abend.
Heute abend schien nur die Rose wichtig zu sein.
Er biß in das zweite Sandwich. Mrs. Shaw hatte die Tür offengelassen; er konnte hören, wie sie mit seinen Eltern redete. Beide hörten sich inzwischen ein wenig ruhiger an. Jake trank den Kakao, dann nahm er den Teller mit dem Apfelkuchen darauf. Wenige Augenblicke später kam Mrs. Shaw zurück. Sie trug einen nur allzu vertrauten blauen Ordner bei sich.
Jake mußte feststellen, daß doch nicht alles Grauen von ihm gewichen war. Inzwischen würden sie es natürlich alle wissen, Schüler und Lehrkörper gleichermaßen, und es war zu spät, etwas dagegen zu tun, aber das bedeutete nicht, ihm gefiel, daß sie nun wußten: Er hatte nicht mehr alle Tassen im Schrank. Daß sie über ihn redeten.
Ein kleines Couvert war an den Ordner geheftet worden. Jake riß es weg und sah zu Mrs. Shaw auf, während er es öffnete. »Wie geht es meinen Leuten jetzt?« fragte er.
Sie gestattete sich ein kurzes Lächeln. »Dein Vater wollte wissen, warum du ihm nicht einfach gesagt hast, daß du an Prüfungsangst leidest. Er sagte, als Junge hatte er es selbst ein- oder zweimal.«
Das machte Jake echt fertig; sein Vater hatte nie zu den Männern gehört, die sich Reminiszenzen hingaben, welche mit den Worten begannen: Weißt du, als ich noch ein Kind war… Jake versuchte sich seinen Vater als Jungen mit schlimmer Prüfungsangst vorzustellen, mußte aber feststellen, daß es ihm nicht gelang – er brachte lediglich das Bild eines häßlichen, pickligen Zwergs im T-Shirt von Piper zuwege, eines Zwergs, dessen schwarzes Haar senkrecht vom Kopf in die Höhe stand.
Der Brief war von Mr. Bissette.
Lieber John,
Bonnie Avery hat mir gesagt, daß Du früher weggegangen bist. Sie macht sich große Sorgen um Dich und ich ebenfalls, obwohl wir beide so etwas schon erlebt haben, besonders in der Woche der Abschlußprüfungen. Bitte komm morgen früh gleich als allererstes bei mir vorbei, okay? Falls Du Probleme hast, können wir sie sicher aus der Welt schaffen. Wenn Du wegen der Prüfung unter Druck stehst – und ich wiederhole, das kommt häufig vor –, kann eine Verschiebung vereinbart werden. Unsere größte Sorge gilt Deinem Wohlbefinden. Ruf mich heute abend an, wenn Du möchtest; Du erreichst mich unter 555-7661. Ich werde bis Mitternacht auf sein.
Vergiß nicht, wir haben Dich alle sehr gern und sind auf Deiner Seite.
A votre sante,
H. Bissette
Jake war zum Weinen zumute. Die Besorgnis war ausgesprochen, und das war schön, aber der Brief enthielt auch andere Dinge, unausgesprochene Dinge – Güte, Verständnis und das Bemühen (wenn auch irregeleitet), zu verstehen und zu trösten.
Mr. Bissette hatte am unteren Rand des Briefes einen
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