Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
auf.
»Ich arbeite nicht für dich«, sagte Jake. »Ich bin dein Sohn, weißt du noch? Wenn nicht, sieh auf dem Bild auf deinem Schreibtisch nach.«
Sein Vater zog die Oberlippe von den Jacketkronen seiner Zähne zu einer Grimasse zurück, die zu zwei Dritteln aus Überraschung und einem Drittel Wut komponiert war. »Sprich nicht so mit mir, Freundchen – wo ist denn dein Respekt geblieben?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich ihn auf dem Heimweg verloren.«
»Du bist den ganzen Tag unerlaubt fort, und dann stehst du hier vor mir und läßt deinem frechen, ungebührlichen Mundwerk freien…«
»Hört auf! Hört auf, alle beide!« schrie Jakes Mutter. Trotz der Beruhigungsmittel in ihrem Körper schien sie den Tränen nahe zu sein.
Jakes Vater griff wieder nach Jakes Arm, überlegte es sich dann aber anders. Vielleicht hatte die große Kraft etwas damit zu tun, mit der sein Sohn ihm vor einem Augenblick die Hand weggerissen hatte. Vielleicht lag es auch an dem Blick in Jakes Augen. »Ich will wissen, wo du gewesen bist.«
»Aus. Das habe ich schon gesagt. Und mehr werde ich nicht sagen.«
»Scheiß drauf! Dein Rektor hat angerufen, dein Französischlehrer war persönlich hier, und beide hatten beaucoup Fragen an dich! Ich auch, und ich will ein paar Antworten!«
»Deine Kleidung ist schmutzig«, stellte seine Mutter fest und fügte dann schüchtern hinzu: »Bist du überfallen worden, Johnny? Hast du Verstecken gespielt und bist überfallen worden?«
»Natürlich ist er nicht überfallen worden«, fauchte Elmer Chambers. »Er hat ja noch seine Uhr, oder nicht?«
»Aber er hat Blut am Kopf.«
»Schon gut, Mom. Ich habe ihn mir angestoßen.«
»Aber…«
»Ich geh jetzt ins Bett. Ich bin sehr müde. Wenn ihr morgen früh darüber reden wollt, okay. Vielleicht blicken wir dann alle ein bißchen besser durch. Aber im Augenblick habe ich nichts zu sagen.«
Sein Vater kam einen Schritt hinter ihm her und streckte die Hand aus.
»Nein, Elmer!« kreischte Jakes Mutter fast.
Chambers achtete nicht auf sie. Er packte Jake am Kragen des Blazers. »Lauf mir nicht einfach so dav…«, begann er, und dann wirbelte Jake herum und riß ihm den Blazer aus der Hand. Der Saum unter dem rechten Arm, der ohnehin schon angegriffen war, riß mit einem schnurren-; den Laut.
Sein Vater sah die blitzenden Augen und wich zurück. Die Wut in seinem Gesicht wurde von etwas ertränkt, das Angst gleichkam. Das Blitzen war nicht sinnbildlich; Jakes Augen schienen tatsächlich in Flammen zu stehen. Seine Mutter ließ einen kraftlosen, kurzen Aufschrei vernehmen, schlug eine Hand vor den Mund, wankte zwei große, stolpernde Schritte zurück und ließ sich mit einem leisen Plumpsen auf ihren Schaukelstuhl fallen.
»Laß… mich… in… Ruhe«, sagte Jake.
»Was ist nur mit dir passiert?« fragte sein Vater, und jetzt war sein Tonfall fast unterwürfig. »Verdammt, was ist bloß mit dir passiert? Du haust ohne ein Wort zu sagen am ersten Examenstag aus der Schule ab, kommst von Kopf bis Fuß schmutzig zurück und benimmst dich, als hättest du den Verstand verloren.«
Na also – da war es – benimmst dich, als hättest du den Verstand verloren. Wovor ihm graute, seit die Stimmen vor drei Wochen angefangen hatten. Der GEFÜRCHTETE VORWURF. Aber jetzt, wo er ausgesprochen worden war, fürchtete sich Jake fast gar nicht mehr davor, was möglicherweise daran lag, daß er selbst das Thema im Geiste schon abgehakt hatte. Ja, etwas war mit ihm passiert. Passierte noch. Aber: Nein – er hatte nicht den Verstand verloren. Jedenfalls noch nicht.
»Wir unterhalten uns morgen früh darüber«, wiederholte er. Er ging durch das Eßzimmer, und diesmal hielt sein Vater ihn nicht auf. Er war fast in der Diele, als ihn seine Mutter mit besorgter Stimme ansprach: »Johnny… ist wirklich alles in Ordnung?«
Und was sollte er antworten? Ja? Nein? Beides? Keines von beiden? Aber die Stimmen waren verstummt, und das war immerhin etwas. Das war sogar eine ganze Menge.
»Es geht mir schon besser«, sagte er schließlich. Er ging in sein Zimmer und schlug die Tür fest hinter sich zu. Das Geräusch der Tür, die sich zwischen ihn und den Rest der großen, weiten Welt schob, erfüllte ihn mit einer grenzenlosen Erleichterung.
20
Er blieb noch eine Weile an der Tür stehen und horchte. Die Stimme seiner Mutter war nur ein Murmeln, die seines Vaters ein wenig lauter.
Seine Mutter sagte etwas über Blut und einen Arzt.
Sein Vater
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