Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
dieser Stadt döste man nicht auf unbebauten Grundstücken, ohne seine Habseligkeiten zu verlieren. Teuer oder nicht, irgend jemand war bestimmt glücklich, wenn er sie einem abnehmen konnte. Diesmal, schien es, hatte er selbst Glück gehabt.
Es war Viertel nach vier Uhr nachmittags. Er hatte hier mindestens sechs Stunden gelegen, von der Welt unbeachtet. Mittlerweile ließ sein Vater wahrscheinlich die Polizei nach ihm suchen, aber das schien nicht besonders wichtig zu sein. Jake kam es so vor, als hätte er die Piper School vor schätzungsweise tausend Jahren unerlaubt verlassen.
Jake ging zum Bretterzaun zwischen dem unbebauten Grundstück und dem Gehweg der Second Avenue und blieb stehen.
Was war eigentlich genau mit ihm passiert?
Nach und nach kehrten die Erinnerungen zurück. Er war über den Zaun gehüpft. Ausgerutscht und hatte sich den Knöchel gestaucht. Er griff nach unten, berührte ihn und zuckte zusammen. Ja – das war alles passiert. Und dann? – Etwas Magisches.
Er tastete nach diesem Etwas wie ein alter Mann, der sich durch ein dunkles Zimmer tastet. Alles war von einem inneren Licht erfüllt gewesen. Alles – sogar die zerknüllten Papierverpackungen und eine weggeworfene Bierflasche. Stimmen waren erklungen – sie hatten gesungen und Tausende verflochtene Geschichten erzählt.
»Und Gesichter«, murmelte er. Angesichts dieser Erinnerung drehte er sich mit mulmigem Gefühl um. Er sah keine Gesichter. Die Backsteinhaufen waren nur Backsteinhaufen, und das verfilzte Unkraut war nur verfilztes Unkraut. Da waren keine Gesichter, aber…
… aber sie sind hiergewesen. Das hast du dir nicht eingebildet.
Das glaubte er. Er konnte die Essenz der Erinnerung nicht einfangen, die ihr eigene Schönheit und Erhabenheit, aber sie machte einen durch und durch wirklichen Eindruck. Diese Erinnerungen an jene Augenblicke, ehe er ohnmächtig geworden war, schienen wie Fotos zu sein, die am schönsten Tag seines Lebens aufgenommen worden waren. Man kann sich daran erinnern, wie dieser Tag gewesen ist – so in etwa jedenfalls –, aber die Bilder sind zweidimensional und fast kraftlos.
Jake sah sich auf dem verlassenen Grundstück um, über das sich die violetten Schatten des Spätnachmittags senkten, und dachte: Ich will dich wiederhaben. Herrgott, ich will dich so wiederhaben, wie du warst.
Dann sah er die Rose, die in der Nähe der Stelle, wo er gestürzt war, aus einem Büschel purpurnen Grases wuchs. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Jake stolperte darauf zu und achtete nicht auf die pochenden Schmerzen, die bei jedem Schritt von seinem Knöchel das Bein hinaufschossen. Er sank wie ein Betender vor einem Altar vor ihr nieder. Er beugte sich mit aufgerissenen Augen darüber.
Es ist nur eine Rose. Doch nur eine Rose. Und das Gras…
Das Gras war doch nicht purpurn, sah er jetzt. Auf den Halmen waren purpurne Spritzer, ja, aber die Farbe darunter war ein ganz normales Grün. Er sah sich etwas weiter um und erblickte blaue Spritzer auf einem anderen Grasbüschel. Rechts von ihm trug eine treibende Klette rote und gelbe Spuren. Und hinter den Kletten lag ein Stapel leerer Farbeimer. Glidden-Deckfarbe Seidenmatt, stand auf den Etiketten.
Das ist alles. Nur Farbspritzer. Aber weil du total durcheinander im Kopf warst, hast du gedacht, du hättest gesehen…
Das war dummes Zeug.
Er wußte, was er vorhin gesehen hatte und was er jetzt sah. »Tarnung«, flüsterte er. »Es war alles da. Alles. Und… es ist noch da.«
Sein Kopf klärte sich langsam, und nun konnte er wieder die stete, harmonische Kraft spüren, welche diesem Ort eigen war. Der Chor war immer noch da, seine Stimmen immer noch harmonisch, aber nun schwach und fern. Er betrachtete einen Haufen von Backsteinen und alten Verputztrümmern und sah ein kaum kenntliches Gesicht, das sich darin verbarg. Es war das Gesicht einer Frau mit einer Narbe auf der Stirn.
»Allie?« murmelte Jake. »Ist dein Name nicht Allie?«
Er bekam keine Antwort. Das Gesicht war fort. Er sah wieder nur einen häßlichen Haufen Verputz und Backsteine vor sich.
Er betrachtete wieder die Rose. Sie hatte, sah er jetzt, nicht die dunkelrote Farbe, welche im Herzen eines glühenden Brennofens haust, sondern eine staubige, fleckige Rosatönung. Sie war wunderschön, aber nicht perfekt. Einige Blütenblätter waren nach außen gerollt; die äußeren Ränder dieser Blätter waren braun und abgestorben. Es handelte sich nicht um eine kultivierte Blume, wie er sie in
Weitere Kostenlose Bücher
Eis und Dampf: Eine Steampunk-Anthologie (German Edition) Online Lesen
von
Mike Krzywik-Groß
,
Torsten Exter
,
Stefan Holzhauer
,
Henning Mützlitz
,
Christian Lange
,
Stefan Schweikert
,
Judith C. Vogt
,
André Wiesler
,
Ann-Kathrin Karschnick
,
Eevie Demirtel
,
Marcus Rauchfuß
,
Christian Vogt