Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
ausgeruht und erfrischt sein. Hast du verstanden?«
»Ja.«
»Dann leg dich hin.«
Der Revolvermann holte Tabak aus dem Beutel und drehte sich eine Zigarette. Etwas fehlte. Er suchte auf seine sorgfältige, gründliche Art danach und fand es. Was fehlte war das Gefühl der Eile, das ihn fast in den Wahnsinn getrieben hatte, das Gefühl, daß er jeden Augenblick zurückgelassen werden konnte, daß die Fährte abreißen und er mit einem abgerissenen Stück Schnur zurückbleiben würde. Das alles war jetzt verschwunden, und der Revolvermann kam allmählich zu der Überzeugung, daß der Mann in Schwarz erwischt werden wollte.
Was würde dann werden?
Die Frage war zu unbestimmt, sein Interesse zu wecken. Cuthbert hätte Interesse daran gehabt, großes Interesse, aber Cuthbert war nicht mehr, und der Revolvermann konnte nur auf die Weise weitermachen, die er kannte.
Er sah den Jungen an, während er rauchte, und sein Verstand wanderte zu Cuthbert zurück, der stets gelacht hatte – er war sogar lachend in den Tod gegangen –, und zu Cort, der niemals gelacht hatte, und zu Marten, der manchmal gelächelt hatte – ein dünnes, stummes Lächeln, das seinen ureigenen beängstigenden Schimmer gehabt hatte… gleich einem Auge, das sich in der Nacht öffnet und Blut offenbart. Und dann war da natürlich noch der Falke gewesen. Der Falke hieß David, nach der Legende von dem Jungen mit der Schleuder. Er war ziemlich sicher, daß David lediglich das Bedürfnis nach Mord, Gemetzel und Schrecken zu verbreiten wußte. David war, wie der Revolvermann auch, kein Dilettant; er spielte eine zentrale Rolle auf dem Spielfeld.
Doch in letzter Instanz war David, der Falke, Marten wahrscheinlich näher gewesen als sonst jemand… und seine Mutter, Gabrielle, hatte das wahrscheinlich gewußt.
Der Magen des Revolvermannes schien schmerzhaft gegen sein Herz zu drücken, aber sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Er sah dem Zigarettenrauch nach, der in die heiße Wüstenluft emporstieg und verschwand, und seine Gedanken wanderten in die Vergangenheit zurück.
2
Der Himmel war weiß, makellos weiß, und der Geruch von Regen hing in der Luft. Der Geruch der Hecken und des wachsenden Grüns war stark und süß. Es war Frühling.
David saß auf Cuthberts Arm, eine kleine Kampfmaschine mit strahlend goldenen Augen, die ins Nichts hinaussahen. Die Wildlederleine, mit der seine Beine gefesselt waren, war sorglos um Cuthberts Arm geschlungen.
Cort stand abseits von den beiden Jungen, eine schweigsame Gestalt in geflickten Lederhosen und einem grünen Baumwollhemd, das von seinem alten, breiten Infanteriegürtel gehalten wurde.
Das Grün seines Hemdes verschmolz mit den Hecken und den wogenden Rasenflächen der Gärten, wo die Damen noch nicht angefangen hatten, um Punkte zu spielen.
»Mach dich bereit«, flüsterte Roland Cuthbert zu.
»Wir sind bereit«, sagte Cuthbert zuversichtlich. »Oder etwa nicht, Davey?«
Sie sprachen die Niedersprache, die Sprache von Küchenjungen und Landjunkern; der Tag, da ihnen gestattet werden würde, in Gegenwart anderer ihre eigene Sprache zu sprechen, war noch in weiter Ferne. »Es ist ein schöner Tag dafür. Kannst du den Regen riechen? Es ist…«
Cort hob völlig unvermittelt den Käfig an seiner Seite und machte die Klappe auf. Die Taube flog heraus und strebte mit raschen, flatternden Flügelschlägen himmelwärts. Cuthbert zog an der Leine, doch er war langsam; der Falke war bereits hochgeflogen, und sein Start war linkisch. Der Falke korrigierte mit einem raschen Flügelschlag. Er schoß in die Höhe, höher als die Taube, er war schnell wie eine Kugel.
Cort kam wie beiläufig zu den beiden Jungen herüber und schwang seine gewaltige Faust nach Cuthberts Ohr. Der Junge kippte ohne einen Laut um, wenngleich er die Lippen über das Zahnfleisch hochzog. Blut troff langsam aus seinem Ohr auf das saftige grüne Gras.
»Du warst langsam«, sagte er.
Cuthbert bemühte sich, auf die Beine zu kommen. »Tut mit leid, Cort. Es ist nur, ich…« – Cort schlug wieder zu, und Cuthbert stürzte wieder. Nun floß das Blut schneller.
»Sprich die Hochsprache«, sagte er leise. Seine Stimme klang tonlos und vom Trinken ein wenig rauh. »Sprich deinen Akt der Reue in der Sprache der Zivilisation, für die bessere Männer gestorben sind, als du je einer sein wirst, Wurm.«
Cuthbert stand wieder auf. Glitzernde Tränen standen in seinen Augen, aber seine Lippen waren fest zu einer
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