Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
sie vielleicht noch bewohnt, und möglicherweise nicht nur von den nichtmenschlichen Wesen, die Roland unter den Bergen gesehen hatte. Die Stadtbewohner konnten
(Amerikaner, flüsterte Eddies Unterbewußtsein)
intelligent und hilfreich sein; sie konnten sogar den Unterschied zwischen Erfolg und Scheitern der Suche der Pilger ausmachen… sogar über Leben und Tod. In Eddies Kopf erstrahlte hell eine Vision (die teilweise aus Filmen wie Starfight und Der dunkle Kristall stammte): ein Rat runzliger, aber würdevoller Ältester, die ihnen ein erstklassiges Menü aus den unverseuchten Vorratskammern unter der Stadt vorsetzten (oder vielleicht aus speziellen Gärten, die unter Umweltkuppeln gehegt wurden) und die, während er und Roland und Susannah sich besinnungslos aßen, genau erklären würden, was vor ihnen lag und was alles zu bedeuten hatte. Ihr Abschiedsgeschenk für die Weggefährten würde aus einer preisgekrönten Touristenkarte bestehen, auf der der beste Weg zum Dunklen Turm rot eingezeichnet war.
Eddie kannte den Ausdruck Deus ex machina nicht, aber er wußte – weil er inzwischen hinreichend erwachsen geworden war –, daß solche weisen und gütigen Männer hauptsächlich in Comics und B-Filmen zu Hause waren. Dennoch war die Vorstellung berauschend: eine Enklave der Zivilisation in dieser gefährlichen, weitgehend menschenleeren Welt; weise Elfen, die ihnen genau sagten, was zum Henker sie eigentlich tun mußten. Und der märchenhafte Umriß der Stadt, der sich in der dunstigen Silhouette offenbarte, machte diese Vorstellung immerhin möglich. Selbst wenn die Stadt verlassen und die Bevölkerung durch den längst vergangenen Ausbruch einer Seuche oder chemische Kriegführung ausgelöscht worden war, konnte sie ihnen als gigantische Werkzeugkiste dienen – ein riesiger Laden mit Überschußbeständen aus Armeebesitz, wo sie sich für die harte Reise ausrüsten konnten, die, wie Eddie sicher wußte, wahrscheinlich vor ihnen lag. Davon abgesehen war er ein Großstadtkind, dort geboren und aufgewachsen, daher übte der Anblick dieser hohen Türme eine natürliche Faszination auf ihn aus.
»Na gut!« sagte er und lachte in seiner Aufregung fast laut. »Zwo, drei, vier, marschieren wir! Laßt diese verdammten weisen Elfen um mich sein!«
Susannah sah ihn fragend an, lächelte aber. »Was schwallst du da, weißer Junge?«
»Nichts. Vergiß es. Ich will nur weiter. Was meinst du, Roland? Möchtest du…«
Aber etwas in Rolands Gesicht oder direkt darunter – etwas Verlorenes, Verträumtes – veranlaßte ihn, den Mund zu halten und Susannah einen Arm um die Schulter zu legen, als wollte er sie beschützen.
15
Nach einem kurzen wegwerfenden Blick auf die Silhouette der Stadt war Rolands Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt worden, das ein gutes Stück näher an ihrer momentanen Position lag und ihn mit Unruhe und Vorahnungen erfüllte. Er hatte so etwas schon einmal gesehen, und das letzte Mal, als er darauf getroffen war, war Jake bei ihm gewesen. Er erinnerte sich, wie sie endlich aus der Wüste herausgekommen waren und die Spuren des Mannes in Schwarz sie durch die Vorgebirge zu den Bergen geführt hatte. Ein harter Weg war es gewesen, aber wenigstens hatten sie wieder Wasser gehabt. Und Gras.
Eines Nachts war er aufgewacht und hatte festgestellt, daß Jake fort war. Er hatte erstickte, verzweifelte Schreie von einem Weidenhain an einem schmalen Bachlauf gehört. Als er sich durch den Hain zur Lichtung gekämpft gehabt hatte, waren die Schreie verstummt. Roland hatte den Jungen an einem Ort gefunden, der dem vor ihnen aufs exakteste glich. Einem Ort der Steine; einem Ort des Opfers; einem Ort, wo ein Orakel wohnte… und sprach, wenn es dazu gezwungen wurde… und tötete, wann immer es konnte.
»Roland?« fragte Eddie. »Was ist denn? Was ist los?«
»Siehst du das?« Roland deutete hinüber. »Das ist ein sprechender Ring. Die Umrisse, die du siehst, sind alle stehende Steine.« Er betrachtete Eddie, den er erstmals in der furchterregenden, aber wunderbaren Luftkutsche in jener seltsamen anderen Welt getroffen hatte, wo die Revolvermänner blaue Uniformen trugen und wo es einen endlosen Vorrat an Zucker, Papier und Wunderdrogen wie Astin gab. Ein seltsamer Ausdruck – eine Vorahnung – dämmerte in Eddies Gesicht. Die strahlende Hoffnung, welche ihn beim Betrachten der Stadt erfüllt hatte, verpuffte und ließ ihn mit einem grauen und trostlosen Ausdruck zurück. Es war der
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