Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Ausdruck eines Mannes, der den Galgen betrachtet, an dem er bald hängen wird.
Erst Jake und jetzt Eddie, dachte der Revolvermann. Das Rad, welches unser Leben dreht, ist unbarmherzig; es kommt immer wieder zur selben Stelle.
»O Scheiße«, sagte Eddie. Seine Stimme klang trocken und ängstlich. »Ich glaube, das ist die Stelle, wo der Junge durchzukommen versucht.«
Der Revolvermann nickte. »Höchstwahrscheinlich. Es sind dünne Stätten, und es sind anziehende Stellen. Ich bin ihm schon einmal zu so einer Stelle gefolgt. Das Orakel, welches dort hauste, hätte ihn um ein Haar getötet.«
»Woher weißt du das?« wandte sich Susannah an Eddie. »War es ein Traum?«
Er schüttelte nur den Kopf. »Ich weiß nicht. Aber in dem Augenblick, als Roland auf die verdammte Stelle gedeutet hat…« Er verstummte und betrachtete den Revolvermann. »Wir müssen so schnell wie möglich dorthin.« Eddie hörte sich hektisch und furchtsam zugleich an.
»Wird es heute passieren?« fragte Roland. »Heute nacht?«
Eddie schüttelte wieder den Kopf und leckte sich die Lippen. »Das weiß ich auch nicht. Nicht sicher. Heute nacht? Das glaube ich nicht. Die Zeit… ist hier nicht dieselbe wie drüben, wo der Junge ist. In seiner Gegenwart läuft sie langsamer ab. Vielleicht morgen.« Er hatte gegen die Panik gekämpft, aber nun brach sie durch. Er drehte sich um und packte Roland mit kalten, klammen Fingern am Hemdkragen. »Aber ich muß den Schlüssel fertigstellen; und ich muß noch etwas machen und habe nicht die geringste Ahnung, was es ist. Und wenn der Junge stirbt, ist es meine Schuld!«
Der Revolvermann legte die Hände auf die von Eddie und zog diese von seinem Hemd weg. »Reiß dich zusammen.«
»Roland, verstehst du denn nicht…«
»Ich verstehe, daß Winseln und Jammern unser Problem nicht lösen wird. Ich verstehe, daß du das Gesicht deines Vaters vergessen hast.«
»Hör mit dem Scheiß auf! Mein Vater ist mir schnurzegal!« kreischte Eddie hysterisch, und Roland schlug ihm ins Gesicht. Es erzeugte ein Geräusch, als würde ein Zweig brechen.
Eddies Kopf kippte nach hinten; er riß erschrocken die Augen auf. Er starrte den Revolvermann an, dann hob er langsam den Arm und berührte den roten Handabdruck auf der Wange.
»Du Dreckskerl!« flüsterte er. Er ließ die Hand auf den Griff des Revolvers fallen, den er noch an der linken Hüfte trug. Susannah versuchte, ihre Hände dazwischen zu schieben; Eddie stieß sie weg.
Und jetzt muß ich wieder lehren, dachte Roland, aber diesmal lehre ich für mein Leben, glaube ich, nicht nur für seines.
Irgendwo in der Ferne kreischte eine Krähe ihren heiseren Ruf in die Stille, und Roland mußte einen Moment an seinen Falken David denken. Jetzt war Eddie sein Falke… und wie David würde auch Eddie nicht zögern, ihm das Auge auszureißen, wenn er auch nur eine Winzigkeit nachgab.
Oder die Kehle zerfleischen.
»Wirst du mich erschießen? Soll es so zu Ende gehen, Eddie?«
»Mann, ich hab’ dein Gesabbel so verdammt satt«, sagte Eddie. Tränen der Wut trübten seine Sicht.
»Du hast den Schlüssel noch nicht vollendet, aber nicht, weil du Angst davor hast, ihn zu vollenden. Du hast Angst davor, daß du ihn nicht vollenden kannst. Du hast Angst davor, zu den Steinen hinabzugehen, aber nicht, weil du Angst vor dem hast, was kommen könnte, sobald du den Kreis betreten hast. Du hast Angst davor, was nicht kommen könnte. Du hast keine Angst vor der großen Welt, Eddie, sondern vor der kleinen in dir selbst. Du hast das Gesicht deines Vaters vergessen. Also tu es. Erschieß mich, wenn du es wagst. Ich bin es leid, mir dein Gewimmer anzuhören.«
»Hör auf!« rief Susannah. »Begreifst du nicht, daß er es machen wird? Begreifst du nicht, daß du ihn zwingst, es zu tun?«
Roland richtete den Blick auf sie. »Ich zwinge ihn, sich zu entscheiden.« Er sah wieder zu Eddie, und sein runzliges Gesicht war streng. »Du bist aus dem Schatten des Heroins und dem Schatten deines Bruders herausgekommen, mein Freund. Jetzt komm aus deinem eigenen Schatten heraus, wenn du es wagst. Komm schon. Komm raus oder erschieß mich, und bring es hinter dich.«
Einen Augenblick glaubte er, Eddie würde es tatsächlich tun und alles würde hier zu Ende sein, auf diesem hohen Grat unter dem wolkenlosen Sonnenhimmel und im Angesicht der Türme der Stadt, die wie blaue Gespenster am Horizont schimmerten. Dann fing Eddie Wange an zu zucken. Die verkniffene Linie seines Mundes wurde
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