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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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sanft ansteigenden Hangs, den sie erklommen hatten, und blickten nach Südosten. Lange Zeit sagte niemand etwas. Susannah machte zweimal den Mund auf und wieder zu. Zum erstenmal in ihrem ganzen Leben war sie vollkommen sprachlos.
    Vor ihnen döste eine fast endlose Ebene im schrägen, goldenen Licht des Sommernachmittags. Das Gras war üppig, smaragdgrün und sehr hoch. Baumgruppen mit langen, schlanken Stämmen und breiten, ausladenden Kronen sprenkelten diese Ebene. Susannah dachte, daß sie einmal bei einem Diavortrag über Australien ähnliche Bäume gesehen hatte.
    Die Straße, der sie gefolgt waren, verlief kurvig die andere Seite des Berges hinab und erstreckte sich dann schnurgerade nach Südosten, ein helles, weißes Band, das das Gras teilte. Im Westen konnte sie einige Meilen entfernt eine Herde großer Tiere friedlich grasen sehen. Sie sahen wie Büffel aus. Im Osten schob der letzte Ausläufer des Waldes eine kurvige Halbinsel in das Grasland. Dieser Ausläufer war ein dunkler, verfilzter Umriß, der wie ein Unterarm mit einer geballten Faust am Ende aussah.
    Ihr wurde klar, daß das die Richtung war, in die alle Bäche und Flüsse strömten, auf die sie gestoßen waren. Sie waren Nebenflüsse dieses gewaltigen Stroms, der aus diesem ausgestreckten Arm des Waldes herauskam und träge und verträumt unter der Sommersonne dahin zum östlichen Rand der Welt floß. Er war breit, dieser Fluß, schätzungsweise zwei Meilen von einem Ufer zum anderen.
    Und sie konnte die Stadt sehen.
    Sie lag direkt voraus, eine dunstige Ansammlung von Türmen und Nadeln, die über den fernen Rand des Horizonts aufragten. Diese luftigen Bauten hätten hundert Meilen entfernt sein können, oder zweihundert, oder vierhundert. Die Luft dieser Welt schien vollkommen klar zu sein, was das Schätzen von Entfernungen zu einem vergeblichen Unterfangen machte. Sie war nur sicher, daß der Anblick dieser schemenhaften Türme sie mit stummem Staunen erfüllte… und einem brennenden, quälenden Heimweh nach New York. Sie dachte: Ich glaube, ich würde fast alles tun, um noch einmal die Silhouette von Manhattan von der Triborough Bridge aus zu sehen.
    Dann mußte sie lächeln, denn das entsprach nicht der Wahrheit. Die Wahrheit war, sie würde Rolands Welt gegen nichts eintauschen. Ihre stummen, geheimnisvollen und endlosen Weiten machten süchtig. Und ihr Geliebter war hier. In New York – jedenfalls dem New York ihrer Zeit – wäre sie Hohn und Spott ausgesetzt gewesen, Zielscheibe grausamer Streiche eines jeden Idioten: eine sechsundzwanzigjährige schwarze Frau mit ihrem käseblassen Liebhaber, der drei Jahre jünger war als sie und die Angewohnheit hatte, zu plappern wie eine Quasselstrippe, wenn er nervös wurde. Ihr käseblasser Liebhaber, der bis vor acht Monaten den Affen der Sucht auf dem Rücken getragen hatte. Hier war niemand, der hänselte oder lachte. Hier zeigte niemand mit Fingern auf sie. Hier existierten nur Roland, Eddie und sie, die drei letzten Revolverleute der Welt.
    Sie ergriff Eddies Hand und spürte diese warm und tröstlich auf ihrer.
    Roland deutete voraus. »Das muß der Fluß Send sein«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich hätte nie gedacht, daß ich ihn jemals in meinem Leben sehen würde… ich war nicht einmal sicher, ob es ihn tatsächlich gibt, wie bei den Wächtern.«
    »Wie schön«, murmelte Susannah. Sie konnte den Blick nicht von der weiten Landschaft nehmen, die üppig in der Wiege des Sommers döste. Sie stellte fest, daß sie mit den Augen den Schatten der Bäume folgte, die meilenweit über die Ebene zu fallen schienen, da die Sonne sich dem Horizont näherte. »So müssen unsere großen Savannen ausgesehen haben, bevor sie besiedelt wurden – sogar bevor die Indianer kamen.« Sie hob die freie Hand und deutete auf die Stelle, wo die Große Straße zum Punkt wurde. »Da ist unsere Stadt«, sagte sie. »Richtig?«
    »Ja.«
    »Sieht gut aus«, sagte Eddie. »Ist das möglich, Roland? Könnte sie noch weitgehend intakt sein? Haben die Altvorderen so gut gebaut?«
    »In diesen Zeiten ist alles möglich«, sagte Roland, aber er hörte sich zweifelnd an. »Du solltest dir aber nicht zu viele Hoffnungen machen, Eddie.«
    »Hm? Nein.« Aber Eddie machte sich Hoffnungen. Die Silhouette, die sich vage abzeichnete, hatte Heimweh im Herzen von Susannah geweckt; in Eddie entfachte sie ein plötzliches Feuer der Entschlossenheit. Wenn die Stadt noch existierte – was eindeutig der Fall war –, dann war

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