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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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unruhigen Schlaf geweckt worden war.
    Er dachte kurz an die Ruger seines Vaters und überlegte sogar kurz, ob er sie aus der Tasche ziehen sollte, aber was würde sie ihm nützen? Hinter ihm rauschte der Verkehr die Rhinehold Street hinauf und hinunter, und eine Mutter schrie ihrer Tochter zu, sie solle aufhören, mit diesem Jungen Händchen zu halten, und die Wäsche reinbringen, aber hier begann eine andere Welt, die von einem düsteren Wesen beherrscht wurde, über das Waffen keine Macht haben konnten.
    Sei aufrichtig, Jake – sei standhaft.
    »Okay«, sagte er mit leiser, zitternder Stimme. »Okay, ich versuche es. Aber du läßt mich besser nicht noch einmal fallen.«
    Langsam ging er die Verandastufen hinauf.
     
     

27
     
    Die Bretter, mit denen die Tür kreuzweise vernagelt war, waren alt und verfault, die Nägel rostig. Jake packte zwei Bretter oben an der Stelle, wo sie sich überkreuzten, und zog. Sie lösten sich mit einem Kreischen wie die Gartentür. Er warf sie über das Verandageländer in ein uraltes Blumenbeet, wo nur noch Hirse und Hundszahn wuchsen. Er bückte sich, umklammerte das untere Kreuz und hielt einen Moment inne.
    Ein hohles Geräusch drang durch die Tür; das Geräusch eines Tieres, das hungrig in einem Betonrohr schmatzt. Jake spürte, wie ein ekliger Schweißfilm sich auf seinen Wangen und der Stirn ausbreitete. Er hatte solche Angst, daß er sich gar nicht mehr wirklich fühlte; er schien zur Figur im Alptraum eines anderen geworden zu sein.
    Der böse Chor, die böse Präsenz, befand sich hinter dieser Tür. Ihr Klang quoll wie Sirup heraus.
    Er zerrte an den unteren Brettern. Sie lösten sich mühelos.
    Logisch. Es will, daß ich ins Haus komme. Es hat Hunger, und ich soll der Hauptgang sein.
    Plötzlich fiel ihm ein Stück aus einem Gedicht ein, das Ms. Avery ihnen einmal vorgelesen hatte. Es sollte vom schweren Los des modernen Menschen handeln, der von allen Wurzeln und Traditionen abgeschnitten war, aber Jake dachte jetzt, daß der Mann, der das Gedicht geschrieben hatte, dieses Haus gesehen haben mußte: Ich will dir weisen ein Ding, das weder / Dein Schatten am Morgen ist, der dir nachfolgt / Noch dein Schatten am Abend, der dir begegnet / Ich zeige dir…
    »Ich zeige dir die Angst in einer Handvoll Staub«, murmelte Jake und legte eine Hand auf den Türknauf. Als er das tat, durchströmte ihn wieder dieses klare Gefühl von Erleichterung und Gewißheit, das Gefühl, daß es diesmal richtig war, daß sich diesmal die Tür zu einer anderen Welt auftun und er eines Himmels gewahr werden würde, welcher unberührt von Qualm und Industrieabgasen war, und am fernen Horizont würden sich nicht Berge zeigen, sondern die dunstigen, vagen Türme einer prachtvollen unbekannten Stadt.
    Er schloß die Finger um den silbernen Schlüssel in seiner Tasche und hoffte, die Tür würde verschlossen sein, damit er ihn benützen konnte. Sie war es nicht. Die Scharniere quietschten, Rostflöckchen rieselten herunter, als sie sich öffnete. Der Geruch von Fäulnis traf Jake wie ein Schlag in den Magen: nasses Holz, schimmliger Verputz, verfaulendes Lattenwerk und uralte Polster. Und unter diesen Gerüchen lag noch ein anderer – der Geruch des Baus eines Tieres. Vor ihm lag eine klamme, schattige Diele. Links erstreckte sich eine Treppe irre schief und gewunden zu den oberen Schatten. Das eingestürzte Geländer lag zersplittert auf dem Dielenboden, aber Jake war nicht so dumm, daß er glaubte, er würde nur Splitter sehen. Es lagen auch Knochen in dem Durcheinander – die Knochen kleiner Tiere. Manche sahen nicht gerade wie Tierknochen aus, und die sah Jake nicht zu lange an; er wußte, wenn er das tat, würde er nie den Mut aufbringen weiterzugehen. Er blieb auf der Schwelle stehen und ermutigte sich, den ersten Schritt zu machen. Er hörte ein leises, gedämpftes Geräusch, abgehackt und sehr schnell, und stellte fest, daß es seine eigenen klappernden Zähne waren.
    Warum hält mich nicht jemand auf? dachte er panisch. Warum geht nicht jemand auf dem Gehweg vorbei und ruft: ›He, du da! Du hast da drinnen nichts zu suchen – kannst du nicht lesen?‹
    Aber er wußte, warum. Fußgänger benützten meistens die andere Straßenseite, und diejenigen, die doch in die Nähe des Hauses kamen, verweilten nicht lange.
    Und selbst wenn jemand herüberschauen würde, würden sie mich nicht sehen, weil ich eigentlich gar nicht mehr da bin. Ob gut oder schlecht, ich habe meine Welt bereits hinter

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