Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Leib.«
»Ich habe dich verstanden, Eddie. Tu du, was du tun mußt.«
Eddie nickte. Er kniete in der Mitte des Kreises und hielt den gespitzten Ast vor sich, als würde er Maß nehmen. Dann senkte er ihn und zog eine dunkle, gerade Linie in die Erde. »Roland, paß auf sie auf…«
»Wenn ich kann, Eddie.«
»… aber halt ihn mir vom Leib. Jake kommt. Der kleine Irre kommt tatsächlich.«
Susannah konnte jetzt sehen, wie sich das Gras nördlich des Rings zu einer langen, dunklen Linie teilte und eine Furche schuf, die genau auf den Ring der Steine zukam.
»Macht euch bereit«, sagte Roland. »Es wird sich auf Eddie stürzen. Einer von uns muß ihm einen Hinterhalt legen.«
Susannah krümmte sich in die Höhe wie eine Schlange, die aus dem Korb eines Hindufakirs kommt. Die Hände hielt sie, zu harten braunen Fäusten geballt, seitlich ans Gesicht. Ihre Augen blitzten. »Ich bin bereit«, sagte sie und brüllte dann: »Komm her, großer Junge! Komm auf der Stelle! Lauf, als wennde Geburtstag hast!«
Es regnete heftiger, als der Dämon, der hier hauste, mit Donnerhall in seinen Kreis hineinfuhr. Susannah hatte gerade noch Zeit, etwas Starkes und unbarmherzig Maskulines zu spüren – sie nahm es als Geruch von Gin und Wacholder wahr, der ihr das Wasser in die Augen trieb –, dann schoß er auf die Mitte des Kreises zu. Sie machte die Augen zu und griff danach – nicht mit den Händen oder dem Geist, sondern mit aller weiblicher Kraft, die in ihrem Innersten wohnte: He, großer Junge, wo gehstn hin? Hier drüben isse Muschi!
Der Dämon wirbelte herum. Sie spürte seine Überraschung… und dann seine brutale Gier, die so voll und prall war wie eine pulsierende Arterie. Er sprang sie an wie ein Triebtäter aus dem Schlund einer Gasse.
Susannah heulte und sank zurück, ihre Halsmuskeln standen vor. Das Kleid, das sie trug, wurde zuerst gegen ihre Brüste und den Bauch gedrückt, dann langsam in Stücke gerissen. Sie konnte ein sinnloses, zielloses Keuchen hören, als hätte die Luft selbst beschlossen, mit ihr zu rammeln.
»Suze!« rief Eddie und wollte aufstehen.
»Nein!« schrie sie zurück. »Mach weiter! Ich hab’ den Hurensohn genau da… genau da, wo ich ihn haben will! Mach weiter, Eddie! Bring den Jungen her! Bring…« Kälte berührte grob das zarte Fleisch zwischen ihren Beinen. Sie grunzte und fiel nach hinten… dann stützte sie sich mit einer Hand und stieß trotzig nach vorne und hoch. »Bring ihn rüber!«
Eddie sah unsicher zu Roland, der nickte. Eddie warf Susannah noch einmal einen Blick aus Augen voll dunklem Schmerz und dunkler Angst zu, dann drehte er den beiden bewußt den Rücken zu und sank wieder auf die Knie. Er streckte den gespitzten Ast aus, der zu einem behelfsmäßigen Zeichenstift geworden war, und achtete nicht auf den Regen, der ihm Arme und Nacken benetzte. Der Ast bewegte sich, zeichnete Striche und Linien und Winkel und schuf ein Bild, das Roland sofort kannte.
Es war eine Tür.
26
Jake streckte die Hand aus, berührte die gesplitterte Tür und drückte. Sie schwang langsam auf, kreischend in ihren rostigen Scharnieren. Vor ihm lag ein unebener Plattenweg. Nach dem Weg kam die Veranda. Auf der Veranda die Tür. Diese war zugenagelt worden.
Er ging langsam auf das Haus zu, während sein Herz rasend schnell Morsezeichen zum Hals telegrafierte. Unkraut war zwischen den schiefen Platten hochgewachsen. Er konnte es an seinen Jeans rascheln hören. Seine sämtlichen Sinne schienen zwei Skaleneinheiten schärfer eingestellt worden zu sein. Du wirst doch nicht wirklich da reingehen, oder? schrie eine panische Stimme in seinem Verstand.
Und die Antwort, die ihm darauf einfiel, schien vollkommen irr und zugleich durch und durch logisch zu sein: Alles dient dem Balken.
Auf dem Schild vor dem Haus stand:
DURCHGANG BEI STRAFANDROHUNG STRENGSTENS
VERBOTEN!
Das vergilbte, rostfleckige Stück Pappe, das auf die Bretter vor der Eingangstür genagelt worden war, war bündiger:
AUF ANORDNUNG DER WOHNRAUMVERWALTUNG VON
NEW YORK
BETRETEN VERBOTEN
Jake blieb am Fuß der Treppe stehen und sah zur Tür hinauf. Er hatte auf dem unbebauten Grundstück Stimmen gehört, und jetzt hörte er wieder welche… aber dies war ein Chor der Verdammten, ein Brabbeln irrer Verwünschungen und ebenso abgeschmackter Versprechungen. Aber er dachte, daß es nur eine einzige Stimme war. Die Stimme des Hauses; die Stimme eines monströsen Torwächters, der aus einem langen,
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