Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Rasen stand ein Schild, ein zweites an der Tür. Von seiner Position aus konnte Jake keines lesen.
Das Haus lebte. Er spürte es, konnte sein Bewußtsein fühlen, das von den Dielen und dem windschiefen Dach ausströmte, konnte spüren, wie es in Strömen aus den schwarzen Augenhöhlen der Fenster quoll. Die Vorstellung, sich diesem Ort des Grauens zu nähern, erfüllte ihn mit Unbehagen, und die Vorstellung, tatsächlich einzutreten, mit unvorstellbarem Entsetzen. Und doch mußte er es tun. Er konnte ein tiefes, träges Summen in den Ohren hören – das Geräusch eines Bienenstocks an einem heißen Sommertag –, und einen Augenblick fürchtete er, er könnte ohnmächtig werden. Er machte die Augen zu… und hörte seine Stimme im Kopf.
Du mußt kommen, Jake. Dies ist der Pfad des Balkens, der Weg des Turms, und deine Zeit, auserwählt zu werden, ist gekommen. Sei aufrichtig; sei standhaft; komm zu mir.
Die Angst verging nicht, aber das Gefühl bevorstehender Panik. Er schlug die Augen auf und stellte fest, daß er nicht der einzige war, der die Macht und erwachende Vernunft des Hauses gespürt hatte. Eddie wollte weg vom Zaun. Er drehte sich zu Jake um, der seine großen und unbehaglichen Augen unter dem grünen Stirnband sehen konnte. Sein großer Bruder packte ihn und schob ihn zu dem rostigen Tor, aber die Geste war so halbherzig, daß man sie kaum als Hänselei bezeichnen konnte; was er auch für ein Klotzkopf sein mochte, Henry mochte die ›Villa‹ ebensowenig wie Eddie.
Sie wichen ein Stück zurück und betrachteten das Haus eine Zeitlang. Jake bekam nicht mit, was sie zueinander sagten, aber ihre Stimmen klangen gedämpft und unbehaglich. Plötzlich fiel Jake ein, was Eddie in seinen Traum gesagt hatte: Aber es besteht Gefahr. Sei vorsichtig… und sei schnell.
Plötzlich sprach der richtige Eddie, der auf der anderen Straßenseite, so laut, daß Jake die Worte verstehen konnte. »Können wir jetzt nach Hause gehen, Henry? Bitte? Es gefällt mir hier nicht.« Sein Tonfall war flehend.
»Erbärmliche kleine Memme«, sagte Henry, aber Jake glaubte, daß er ebensoviel Erleichterung wie Beleidigung aus Henrys Stimme heraushören konnte. »Komm schon.«
Er wandte sich von dem verfallenen Haus ab, das mit hochgereckten Schultern hinter seinem schiefen Zaun kauerte, und näherten sich der Straße. Jake wich zurück, dann drehte er sich um und sah ins Schaufenster eines mitleiderregenden kleinen Ladens namens Dutch Hill Secondhand-Geräte. Er sah die vagen und geisterhaften Spiegelbilder von Eddie und Henry über einem alten Hoover-Staubsauger, als die beiden die Rhinehold Street überquerten.
»Bist du sicher, daß es nicht richtig spukt?« fragte Eddie, als sie auf Jakes Seite den Gehweg betraten.
»Nun, ich will dir was sagen«, antwortete Henry. »Nachdem ich jetzt wieder einmal hier gewesen bin, bin ich nicht mehr so sicher.«
Sie gingen unmittelbar hinter Jake vorbei, ohne ihn anzusehen. »Würdest du reingehen?« fragte Eddie.
»Nicht für eine Million Dollar«, antwortete Henry wie aus der Pistole geschossen.
Sie gingen um die Ecke. Jake ging vom Schaufenster weg und sah ihnen nach. Sie gingen dicht nebeneinander auf dem Gehweg in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren; Henry schlurfte mit seinen stahlkappengeschmückten Arschtretern dahin und ließ die Schultern bereits wie ein viel älterer Mann hängen, wohingegen Eddie voll hübscher, unbewußter Anmut neben ihm herschritt. Ihre Schatten, die inzwischen lang auf die Straße fielen, überkreuzten sich verspielt.
Sie gehen nach Hause, dachte Jake und verspürte eine so heftige Einsamkeit, daß er dachte, sie müßte ihn zerquetschen. Sie gehen nach Hause und essen und machen ihre Hausaufgaben und streiten, welche Fernsehserie sie sich ansehen, und dann gehen sie zu Bett. Henry mag ein rücksichtsloses Arschloch sein, aber sie haben wenigstens ein Leben, die beiden, das einen Sinn ergibt… und zu dem kehren sie zurück. Ich frage mich, ob sie eine Ahnung haben, wie glücklich sie sich schätzen können. Eddie vielleicht, könnte ich mir denken.
Jake drehte sich um, rückte die Gurte des Ranzens zurecht und überquerte die Rhinehold Street.
25
Susannah spürte eine Bewegung im verlassenen Grasland hinter dem Kreis aus Steinen; einen seufzenden, flüsternden Sog.
»Etwas kommt«, sagte sie nervös. »Und zwar schnell.«
»Sei vorsichtig«, sagte Eddie, »aber halt es mir vom Leib. Hast du verstanden? Halt es mir vom
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