Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
den Herd auf und hielt ein Schwefelholz an das Holz, das bereits ordentlich darin aufgeschichtet war; eine andere machte eine Tür auf und ging eine kurze Treppe hinunter in eine Kältekammer. Derweil führte Tante Talitha die anderen durch einen breiten Eingang im hinteren Teil der Kirche. Sie deutete mit dem Stock auf zwei Klapptische, die dort unter einem sauberen, aber zerrissenen Tuch verwahrt wurden, worauf die beiden älteren Albinos unverzüglich hinübergingen und sich mit einem davon abmühten.
»Komm mit, Jake«, sagte Eddie. »Helfen wir ihnen.«
»Nee!« sagte Tante Talitha brüsk. »Wir sind vielleicht alt, aber wir brauchen keine Hilfe! Noch nicht, Bürschchen!«
»Laßt sie in Ruhe«, sagte Roland.
»Die alten Narren werden sich einen Bruch heben«, murmelte Eddie, aber er folgte den anderen und überließ den Tisch den beiden Männern.
Susannah stöhnte, als Eddie sie aus dem Rollstuhl hob und durch die Hintertür trug. Dies war kein Rasen, sondern ein Mustergarten mit Blumenbeeten, die wie Fackeln im grünen Gras leuchteten. Sie sah einige, die sie kannte – Ringelblumen und Zinnien und Flammenblumen –, aber viele andere waren ihr fremd. Sie sah, wie eine Bremse auf einer hellblauen Blüte landete… die sich sofort darüber schloß und fest zusammenrollte.
»Mann!« sagte Eddie, der sich umsah. »Ein Blumengarten!«
Sie sagte: »Diesen Ort allein bewahren wir, wie er in den alten Zeiten war, bevor die Welt sich weitergedreht hat. Und wir halten ihn vor denen verborgen, die durchreiten – Pubes, Graue, Waldläufer. Sie würden ihn niederbrennen, wüßten sie davon… und uns töten, weil wir ihn erhalten. Sie hassen alles Schöne – sie alle. Das haben sämtliche Dreckskerle gemeinsam.«
Die blinde Frau zupfte an seinem Arm und brachte ihn zum Schweigen.
»Keine Reiter mehr heutzutage«, sagte der alte Mann mit dem Holzbein. »Schon lange nicht mehr. Sie bleiben in der Nähe der Stadt. Ich schätze, dort finden sie alles, was sie zu ihrem Wohlbefinden brauchen.«
Die Albinozwillinge kämpften sich mit dem Tisch heraus. Eine der alten Frauen folgte ihnen und drängte sie, sie sollten ihr endlich Platz machen. Sie hielt einen irdenen Krug in jeder Hand.
»Setzt Euch nieder, Revolvermann!« rief Tante Talitha und deutete mit dem Stock aufs Gras. »Setzt euch alle nieder!«
Susannah konnte hundert widerstreitende Gerüche wahrnehmen. Sie erfüllten sie mit einem Gefühl der Benommenheit und des Unwirklichen, als wäre dies alles ein Traum. Sie konnte kaum daran glauben, an dieses winzige Stückchen Eden hinter der verfallenden Fassade einer Geisterstadt.
Eine weitere Frau kam mit einem Tablett voller Gläser heraus. Sie paßten nicht zusammen, waren aber fleckenlos und funkelten in der Sonne wie kostbares Kristall. Sie hielt das Tablett zuerst Roland hin, dann Tante Talitha, Eddie, Susannah und zuletzt Jake. Nachdem jeder ein Glas genommen hatte, schenkte die erste Frau eine dunkle, goldfarbene Flüssigkeit ein.
Roland beugte sich zu Jake, der neben Oy am Rand eines ovalen Beetes mit hellgrünen Blumen saß. Er murmelte: »Trink nur soviel, wie die Höflichkeit erfordert, Jake, sonst müssen wir dich aus dem Dorf tragen; dies ist Graf – starkes Apfelbier.«
Jake nickte.
Talitha hielt das Glas hoch, und als Roland es ihr nachtat, schlossen sich auch Eddie, Susannah und Jake an.
»Was ist mit den anderen?« flüsterte Eddie Roland zu.
»Sie wird man nach der Spende bedienen. Und nun schweig.«
»Möchtet Ihr ein Wort an uns richten, Revolvermann?« fragte Tante Talitha.
Der Revolvermann erhob sich und hielt das Glas in einer erhobenen Hand. Er senkte den Kopf, als würde er nachdenken. Die wenigen verbliebenen Einwohner von River Crossing betrachteten ihn respektvoll und, dachte Jake, ein wenig ängstlich. Schließlich hob er wieder den Kopf. »Trinken wir auf die Erde und die Tage, welche über sie hinweggezogen sind?« fragte er. Seine Stimme war heiser und bebte vor Gefühlsregungen. »Trinken wir auf die Erfüllung von einst und auf dahingeschiedene Freunde? Trinken wir auf in Freundschaft verbundene gute Gesellschaft? Bringen uns diese Dinge weiter, Alte Mutter?«
Sie weinte, sah Jake, und doch wurde ihr Gesicht zu einer Maske strahlenden Glücks… und einen Augenblick lang war sie beinahe jung. Jake betrachtete sie staunend und voll plötzlich aufkeimenden Glücksgefühls. Zum erstenmal, seit Eddie ihn durch die Tür gezogen hatte, spürte Jake, wie der Schatten des
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