Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
sich ergehen, aber Eddie konnte sehen, daß er überrascht und verlegen zugleich war.
Wenn sie zu Roland kamen, knieten sie vor ihm nieder und berührten den Sandelholzgriff des Revolvers, der aus dem Halfter an der linken Hüfte ragte. Er legte ihnen die Hände auf die Schultern und küßte jedem die runzlige Stirn. Mercy war die letzte; sie schlang die Arme um Rolands Taille und gab ihm einen feuchten, schallenden Schmatz auf die Wange.
»Gott schütze und behüte Euch, Revolvermann! Wenn ich Euch nur sehen könnte!«
»Vergiß deine Manieren nicht, Mercy!« sagte Tante Talitha schneidend, aber Roland achtete nicht auf sie und beugte sich über die blinde Frau.
Er nahm ihre Hände sanft, aber fest in seine und führte sie zu seinem Gesicht. »Sieh mich damit, meine Schöne«, sagte er und machte die Augen zu, als sich ihre runzligen und von Arthritis deformierten Finger langsam über Stirn, Wangen, Lippen und Kinn tasteten.
»Ay, Revolvermann!« hauchte sie und hob ihre toten Augenhöhlen seinen blauen Augen entgegen. »Ich sehe dich ausgezeichnet! Ein schönes Gesicht ist es, doch voll Traurigkeit und Anteilnahme. Ich habe Angst um Euch und die Euren.«
»Und doch wurden wir voll des Guten, oder nicht?« sagte er und drückte einen sanften Kuß auf die runzlige Haut ihrer Stirn.
»Ay – das sind wir. Das sind wir. Danke für Euren Kuß, Revolvermann. Aus ganzem Herzen danke ich Euch.«
»Geh weiter, Mercy«, sagte Tante Talitha mit sanfterer Stimme. »Trink deinen Kaffee.«
Mercy stand auf. Der alte Mann mit Krücke und Holzbein führte ihre Hand zum Hosenbund. Sie ergriff ihn und ließ sich nach einem letzten Gruß an Roland und seine Gefährten von ihm wegführen.
Eddie wischte sich die feuchten Augen ab. »Wer hat sie geblendet?« fragte er heiser.
»Waldläufer«, sagte Tante Talitha. »Mit einem Brandeisen haben sie es getan, so war es. Haben gesagt, weil sie sie keck angesehen hat. Vor fünfundzwanzig Jahren war das. Trinkt jetzt euren Kaffee, alle zusammen! Er schmeckt heiß nicht besonders, aber wenn er kalt ist, ist er nicht besser als Schlamm auf dem Weg.«
Eddie hob die Tasse zum Mund und kostete versuchsweise. Er wäre nicht gerade so weit gegangen, ihn als Schlamm auf dem Weg zu bezeichnen, aber es war auch nicht gerade Beste Bohne.
Susannah kostete und sah verblüfft drein. »Aber das ist Zichorie!«
Talitha sah sie an. »Ich kenne es nicht. Ich kenne nur Dockey, und nur Dockeykaffee haben wir hier, seit ich den Fluch der Frauen zum letztenmal hatte, und dieser Fluch wurde schon vor langer, langer Zeit von mir genommen.«
»Wie alt sind Sie denn, Ma’am?« fragte Jake plötzlich.
Tante Talitha sah ihn überrascht an, dann gackerte sie. »In Wahrheit, Junge, entsinne ich mich nicht. Ich erinnere mich, daß ich genau an dieser Stelle saß und meinen Achtzigsten feierte, aber an diesem Tag hatten sich über fünfzig Menschen auf dem Rasen versammelt, und Mercy hatte noch ihre Augen.« Sie sah zu dem Bumbler, der zu Jakes Füßen lag. Oy nahm die Schnauze nicht von Jakes Knöchel, sah sie aber mit seinen goldumrandeten Augen an. »Ein Billy-Bumbler, bei Daisy! Es ist lang und länger her, seit ich einen Bumbler in Begleitung von Menschen gesehen habe… es scheint, als hätten sie die Erinnerung an die Zeiten verloren, da sie bei den Menschen hausten.«
Einer der Albinozwillinge bückte sich, um Oy zu streicheln. Oy wich vor ihm zurück.
»Früher haben sie Schafe gehütet«, sagte Bill (oder möglicherweise Till) zu Jake. »Hast du das gewußt, Jüngster?«
Jake schüttelte den Kopf.
»Tut er sprechen?« fragte der Albino. »Manche sprachen in den alten Zeiten.«
»Ja, er spricht.« Er sah zu dem Bumbler hinab, der den Kopf wieder auf Jakes Knöchel gelegt hatte, sobald die fremde Hand aus seinem Umkreis verschwunden war. »Sag deinen Namen, Oy.«
Oy sah nur zu ihm auf.
»Oy!« drängte Jake, aber Oy blieb stumm. Jake sah Tante Talitha und die Zwillinge ein wenig verlegen an. »Nun, er spricht… aber anscheinend nur, wenn er will.«
»Der Junge sieht nicht aus, als gehörte er hierher«, sagte Tante Talitha zu Roland. »Seine Kleidung ist seltsam… und seine Augen sind auch seltsam.«
»Er ist noch nicht lange hier.« Roland lächelte Jake zu, und Jake lächelte unsicher zurück. »In einem Monat oder zweien wird niemand mehr etwas Seltsames an ihm bemerken.«
»Ay? Ich zweifle, das tu’ ich. Und woher kommt er?«
»Von weit fort«, sagte der Revolvermann. »Sehr
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