Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
durch eine Gruppe von Essenden ritt, die auseinander stoben.
Danach löste sich die Menge rasch auf, und nach vierzig Minuten waren die beiden Jungen allein auf dem kleinen Hügel, für den sie sich entschieden hatten. Die Vögel kamen zurück, um ihren neuen Schmaus zu begutachten. Einer ließ sich auf Hax’ Schulter nieder, wo er gesellig sitzenblieb und mit dem Schnabel nach dem glitzernden Ring pickte, den Hax stets im rechten Ohr getragen hatte.
»Sieht gar nicht wie er aus«, sagte Cuthbert.
»Doch, das tut er«, sagte Roland überzeugt, während sie mit dem Brot in der Hand zum Galgen gingen. Cuthbert machte einen verlegenen Eindruck.
Sie blieben unter dem Galgenbaum stehen und sahen zu dem baumelnden, kreisenden Leichnam hinauf. Cuthbert streckte eine Hand aus und berührte trotzig einen haarigen Knöchel. Der Leichnam beschrieb eine neue, veränderte Drehbewegung.
Dann brachen sie hastig das Brot und verteilten die Krümel unter den baumelnden Füßen.
Roland sah nur einmal zurück, als sie davonritten. Jetzt hatten sich Tausende Vögel dort eingefunden. Demnach war das Brot – was er nur vage begriff – symbolisch.
»Es war gut«, sagte Cuthbert plötzlich. »Es… es… es hat mir gefallen. Wirklich.«
Das schockierte Roland nicht, wenngleich ihm die Vorstellung nicht besonders zugesagt hatte. Aber er dachte, daß er es möglicherweise verstehen konnte.
»Das weiß ich nicht«, sagte er, »aber es war schon was. Ganz sicher.«
Das Land fiel dem guten Mann die nächsten zehn Jahre nicht in die Hände, und zu dieser Zeit war er selbst Revolvermann, sein Vater war tot, er selbst war zum Muttermörder geworden und die Welt hatte sich weiter gedreht.
3
»Schau«, sagte Jake und deutete nach oben.
Der Revolvermann sah auf und spürte einen vergessenen Wirbel in seinem Rücken knacken. Sie waren jetzt seit zwei Tagen im Vorgebirge, und die Wasserschläuche waren fast wieder leer, aber das machte jetzt nichts mehr. Bald würden sie mehr Wasser haben, als sie trinken konnten.
Er folgte dem Vektor von Jakes Finger nach oben, vorbei an dem ansteigenden grünen Hang und zu den kahlen und gleißenden Felsen und Schluchten darüber… bis zur schneebedeckten Kuppe selbst.
Der Revolvermann sah in weiter Ferne den Mann in Schwarz, lediglich als winzigen Punkt (es hätte einer der Splitter sein können, die einem unablässig vor dem Auge tanzen, wäre die konstante Bewegung nicht gewesen), der sich mit tödlicher Entschlossenheit die Hänge hinaufbewegte, eine winzige Fliege auf einer riesigen Granitmauer.
»Ist er das?« fragte Jake.
Der Revolvermann betrachtete den entpersonalisierten Punkt, der seine ferne Akrobatik vollführte, und empfand lediglich eine Vorahnung von Kummer.
»Das ist er, Jake.«
»Glaubst du, daß wir ihn erwischen?«
»Auf dieser Seite nicht. Auf der anderen. Aber sicher nicht, wenn wir hier stehenbleiben und darüber reden.«
»Sie sind so hoch«, sagte Jake. »Was liegt auf der anderen Seite?«
»Ich weiß nicht«, sagte der Revolvermann. »Ich glaube nicht, daß das überhaupt jemand weiß. Vielleicht wußten sie es einst. Komm jetzt, Junge.«
Sie gingen weiter aufwärts und ließen kleine Geröll- und Sandlawinen in die Wüste hinabrieseln, die sich wie ein endloses Backblech hinter ihnen auszudehnen schien. Vor ihnen, weit voraus, kletterte der Mann in Schwarz immer höher und höher und höher. Es war unmöglich zu sehen, ob er sich umdrehte. Er schien über unmögliche Klüfte zu springen, senkrechte Wände zu erklimmen. Ein- oder zweimal verschwand er, aber sie sahen ihn immer wieder, bis der violette Vorhang der Dämmerung ihn ihren Blicken entzog.
Als sie ihr Nachtlager aufschlugen, sagte der Junge kaum etwas, und der Revolvermann fragte sich, ob der Junge wußte, was er bereits intuitiv gespürt hatte. Er dachte an Cuthberts erhitztes, erschrockenes, aufgeregtes Gesicht vor sich. Er dachte an Brotkrümel. Er dachte an die Vögel. So endet es, dachte er. Immer wieder endet es so. Es gibt Suchen und Straßen, die unablässig weiter führen, und alle enden am selben Ort… auf dem Schlachtfeld.
Abgesehen vielleicht von der Straße zum Turm.
Der Junge, das Opfer, dessen Gesicht im Schein des winzigen Feuers sehr jung wirkte, war über seinen Bohnen eingeschlafen. Der Revolvermann deckte ihn mit der Pferdedecke zu, dann legte er sich selbst zum Schlafen nieder.
Dritter Teil
Das Orakel und
die Berge
1
Der Junge fand das Orakel, und es brachte
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