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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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von Ödipus erzählen, und er würde sie mit seiner stillen Nachdenklichkeit verarbeiten und an das seltsame und blutige Dreieck denken, welches von seinem Vater, seiner Mutter und Marten – der in einigen Vierteln als der gute Mann bekannt war – gebildet wurde. Oder vielleicht war es ein Quadrat, wenn man ihn selbst noch mit einbeziehen wollte.
    »Gute Nacht, Vater«, sagte Roland.
    »Gute Nacht, mein Sohn«, sagte sein Vater geistesabwesend und fing an, sein Hemd aufzuknüpfen. In seinen Gedanken war der Junge bereits gegangen. Wie der Vater, so der Sohn.
     
    Der Galgenberg befand sich an der Straße nach Farson, was sehr poetisch war – Cuthbert hätte es gefallen, aber Roland nicht. Ihm gefiel der wunderbar geheimnisvolle Galgen, der in den strahlendblauen Himmel ragte, eine schwarze und eckige Silhouette, welche die Kutschenstraße überragte.
    Die beiden Jungen waren von den morgendlichen Übungen befreit worden – Cort hatte die Anweisungen ihrer Väter mühsam vorgelesen, indem er die Lippen bewegt und an manchen Stellen genickt hatte. Als er mit beiden fertig gewesen war, hatte er zum blauvioletten Himmel der Dämmerung hinaufgesehen und noch einmal genickt. »Wartet hier«, hatte er gesagt und war zu der windschiefen Steinhütte gegangen, die seine Unterkunft war. Er kam mit einem Stück derbem, ungesäuertem Brot zurück, brach es entzwei und gab jedem Jungen eine Hälfte.
    »Wenn es vorbei ist, werdet ihr das unter seine Schuhe legen. Macht genau, was ich euch sage, sonst werde ich euch die ganze nächste Woche über windelweich prügeln.«
    Sie verstanden erst, als sie dort ankamen, wohin sie beide auf Cuthberts Wallach geritten waren. Sie waren die ersten, zwei Stunden vor allen anderen, und vier Stunden vor dem Hängen, und der Galgenberg war verlassen – abgesehen von Krähen und Raben. Die Vögel waren überall, und sie waren selbstverständlich alle schwarz. Sie saßen lärmend auf dem harten, hervorstehenden Balken, der über die Falltür ragte – der Vorrichtung des Todes. Sie saßen in einer Reihe entlang der Plattform, sie buhlten um die Plätze auf den Stufen.
    »Sie lassen sie hier«, murmelte Cuthbert. »Für die Vögel.«
    »Gehen wir hinauf«, sagte Roland.
    Cuthbert sah ihn mit so etwas wie Entsetzen an. »Glaubst du…«
    Roland unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Wir sind Jahre zu früh. Es wird schon niemand kommen.«
    »Also gut.«
    Sie schritten langsam auf den Galgen zu, und die Vögel flogen indigniert davon, sie keiften und kreisten wie ein Mob wütender, enteigneter Bauern. Vor dem reinen Licht der Dämmerung waren ihre Körper flach und schwarz.
    Roland empfand zum ersten Mal das gewaltige Ausmaß seiner Verantwortung in dieser Frage; dieses Holz war nicht edel, kein Bestandteil der ehrfurchtgebietenden Maschinerie der Zivilisation, sondern lediglich krummes Kiefernholz voll weißem Vogelmist. Er war überall – auf der Treppe, dem Geländer, der Plattform –, und er stank.
    Der Junge drehte sich mit aufgerissenen, schreckgeweiteten Augen zu Cuthbert um und sah, daß Cuthbert ihn mit demselben Ausdruck ansah.
    »Ich kann nicht«, flüsterte Cuthbert. »Ich kann nicht zusehen.«
    Roland schüttelte langsam den Kopf. Dies war eine Lektion, das war ihm klargeworden, nichts Strahlendes, sondern etwas Altes, Rostiges und Mißgestaltetes. Darum hatten ihre Väter sie herkommen lassen. Und Roland legte mit seiner gewohnten störrischen und unartikulierten Schwerfälligkeit die geistigen Hände auf das, was immer es sein mochte.
    »Du kannst es, Bert.«
    »Ich werde heute nacht kein Auge zutun.«
    »Dann wirst du es eben nicht tun«, sagte Roland, der nicht einsah, was das damit zu tun hatte.
    Plötzlich ergriff Cuthbert Rolands Hand und sah ihn voll so stummem Leid an, daß Rolands eigene Zweifel zurückkehrten und er sich inbrünstig wünschte, sie wären in jener Nacht nicht in die Westküche gegangen. Sein Vater hatte recht gehabt. Besser jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in Farson als das.
    Aber um welche Lektion es sich auch handeln mochte, um welches rostige, halb begrabene Ding, er würde es nicht sein lassen oder seinen Griff darum lockern.
    »Gehen wir nicht hinauf«, sagte Cuthbert. »Wir haben alles gesehen.«
    Und Roland nickte widerwillig und spürte, wie sich sein Griff um das Ding – was immer es war – lockerte. Er wußte, Cort hätte sie beide umgeschlagen und dann fluchend gezwungen, jeden einzelnen Schritt zu gehen… und dabei hätten sie das

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