Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
nur den Wind hören, und leiser den Fluß Send, der ein Bett hatte, aber nie schlief.
5
Die nächsten vier Tage verstrichen ereignislos. Sie wanderten; sie sahen, wie Brücke und Stadt größer und deutlicher wurden; sie schlugen ihr Lager auf; sie aßen; sie lasen Rätsel vor; sie hielten abwechselnd Wache (Jake hatte Roland so lange zugesetzt, bis dieser ihm eine kurze Wache während den zwei Stunden vor der Dämmerung gab); sie schliefen. Das einzig erwähnenswerte Ereignis hatte mit den Bienen zu tun.
Gegen Mittag des dritten Tages nach Entdeckung des Flugzeugs vernahmen sie ein summendes Geräusch, das immer lauter wurde, bis es den Tag beherrschte. Schließlich hatte Roland Rast gemacht. »Da«, sagte er und deutete auf einen Hain Eukalyptusbäume.
»Hört sich an wie Bienen«, sagte Susannah.
Rolands blaßblaue Augen leuchteten. »Könnte sein, daß wir heute abend einen kleinen Nachtisch bekommen.«
»Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, Roland«, sagte Eddie, »aber ich habe eine Abneigung dagegen, gestochen zu werden.«
»Wer nicht«, stimmte Roland zu, »aber der Tag ist windstill. Ich glaube, wir können sie ausräuchern, bis sie schlafen, und ihnen ihre Waben stehlen, ohne die halbe Welt in Brand zu stecken. Mal sehen.«
Er trug Susannah, die ebenso erpicht auf das Abenteuer war wie der Revolvermann selbst, zu dem Hain. Eddie und Jake hielten sich zurück, und Oy, der offenbar zur Überzeugung gelangt war, daß Bedachtsamkeit den besten Teil der Tapferkeit ausmachte, blieb am Rand der Großen Straße sitzen, hechelte wie ein Hund und behielt sie aufmerksam im Auge.
Roland blieb am Rand des Hains stehen. »Bleibt, wo ihr seid«, sagte er leise zu Eddie und Jake. »Wir sehen uns einmal um. Ich gebe euch das Okay, wenn die Luft rein ist.« Er trug Susannah in die fleckigen Schatten des Hains, während Eddie und Jake im Sonnenschein blieben und ihnen nachsahen.
Im Schatten war es kühler. Das Summen der Bienen war ein stetes, hypnotisches Dröhnen. »Es sind zu viele«, murmelte Roland. »Es ist Spätsommer; sie müßten unterwegs sein. Ich weiß nicht…«
Er erblickte den Stock, der sich tumorartig aus einem hohlen Baum in der Mitte der Lichtung wölbte, und verstummte.
»Was ist denn mit denen los?« fragte Susannah mit leiser, entsetzter Stimme. »Roland, was ist mit denen los ?«
Eine Biene, die so plump und langsam wie eine Bremse im Oktober war, summte an ihrem Kopf vorbei. Susannah zuckte zurück.
Roland winkte den anderen, sie sollten sich zu ihnen gesellen. Sie kamen und betrachteten den Bienenstock wortlos. Die Kammern waren keine ordentlichen Sechsecke, sondern willkürliche Löcher aller Formen und Größen; der Stock selbst sah seltsam geschmolzen aus, als wäre jemand mit einer Fackel darüber hinweggestrichen. Die Bienen, die darauf herumkrabbelten, waren schneeweiß.
»Kein Honig heute abend«, sagte Roland. »Was wir aus jenem Stock holen könnten, mag süß schmecken, aber es würde uns sicher vergiften.«
Eine der grotesken weißen Bienen summte träge an Jakes Kopf vorbei. Dieser duckte sich mit einem Ausdruck des Ekels.
»Was war das?« fragte Eddie. »Was hat das aus ihnen gemacht, Roland?«
»Dasselbe, was dieses ganze Land entvölkert hat; das immer noch dafür verantwortlich ist, daß viele Büffel als unfruchtbare Mißgeburten zur Welt kommen. Ich habe gehört, wie es der Alte Krieg, das Große Feuer, der Kataklysmus und die Große Verseuchung genannt wurde. Was immer es war, es war der Anfang all unserer Probleme und es ist vor langer Zeit geschehen, tausend Jahre bevor die Ur-Urgroßväter der Menschen in der Stadt am Fluß geboren wurden. Die sichtbaren Auswirkungen – Büffel mit zwei Köpfen und weiße Bienen wie diese –, sind mit der Zeit immer weniger geworden. Das habe ich selbst gesehen. Andere Veränderungen sind größer, wenn auch schwerer zu sehen, und dauern immer noch an.«
Sie beobachteten, wie die weißen Bienen benommen und fast völlig hilflos in ihrem Stock herumkrabbelten. Manche versuchten offensichtlich, ihre Arbeit zu tun; die meisten dagegen wanderten einfach herum, stießen sich die Köpfe an und wuselten übereinander. Eddie mußte an eine Nachrichtensendung denken, die er einmal gesehen hatte. Sie zeigte eine Gruppe Überlebender, die die Stätte einer großen Gasexplosion verließen, welche fast einen gesamten Häuserblock in einer kalifornischen Stadt dem Erdboden gleichgemacht hatte. Die Bienen hier
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