Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
erinnerten ihn an jene benommenen Überlebenden unter Schock.
»Ihr habt einen Atomkrieg gehabt, richtig?« fragte er – fast anklagend. »Diese Großen Alten, von denen du so gern sprichst… sie haben ihre großen alten Ärsche zur Hölle gepustet, Richtig?«
»Ich weiß nicht, was passiert ist. Niemand weiß es. Die Aufzeichnungen aus jener Zeit sind verlorengegangen, und die wenigen Überlieferungen sind wirr und widersprüchlich.«
»Laßt uns gehen«, sagte Jake mit zitternder Stimme. »Es macht mich krank, diese Tiere anzusehen.«
»Ganz meine Meinung, Süßer«, sagte Susannah.
So überließen sie die Bienen ihrem ziellosen, aus den Fugen geratenen Leben im Hain der uralten Bäume und aßen an diesem Abend keinen Honig.
6
»Wann wirst du uns erzählen, was du weißt?« fragte Eddie Roland am nächsten Morgen. Der Tag war klar und blau, aber es lag Kälte in der Luft; der erste Herbst in dieser Welt war fast angebrochen.
Roland sah ihn an. »Was meinst du damit?«
»Ich würde gerne deine ganze Geschichte hören, vom Anfang bis zum Ende, angefangen mit Gilead. Wie du dort aufgewachsen bist und was geschehen ist, daß alles zu Ende ging. Ich möchte wissen, wie du vom Dunklen Turm erfahren hast und warum du überhaupt mit der Suche danach angefangen hast. Und ich möchte alles über deine Freunde wissen, und was aus ihnen geworden ist.«
Roland setzte den Hut ab, wischte sich mit den Armen Schweiß von der Stirn und zog ihn wieder auf. »Ich schätze, du hast ein Recht, das alles zu erfahren, und ich werde es dir erzählen… aber nicht jetzt. Es ist eine sehr lange Geschichte. Ich hätte nie gedacht, daß ich sie überhaupt jemals jemandem erzählen würde, und ich werde sie nur einmal erzählen.«
»Wann?« beharrte Eddie.
»Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist«, sagte Roland, und damit mußten sie sich zufriedengeben.
7
Roland erwachte, einen Augenblick bevor Jake anfing, ihn zu schütteln. Er richtete sich auf und sah sich um, aber Eddie und Susannah schliefen immer noch fest, und er konnte im ersten spärlichen Licht der Dämmerung nichts Außergewöhnliches feststellen.
»Was ist denn?« fragte er Jake mit leiser Stimme.
»Ich weiß nicht. Vielleicht Kämpfe. Komm und hör selbst.«
Roland warf die Decke von sich und folgte Jake zur Straße. Er schätzte, daß sie mittlerweile nur drei Tage Fußmarsch von der Stelle entfernt waren, wo der Send an der Stadt vorbeifloß und die Brücke – die genau auf dem Pfad des Balkens erbaut war – den Horizont beherrschte. Ihre deutliche Neigung war jetzt besser denn je auszumachen, und er konnte mindestens ein Dutzend Lücken erkennen, wo überlastete Kabel gerissen waren wie die Saiten einer Leier.
Heute nacht blies ihnen der Wind genau in die Gesichter, wenn sie zur Stadt sahen, und die Geräusche, die er ihnen zutrug, waren schwach, aber deutlich.
»Sind es Kämpfe?« fragte Jake.
Roland nickte und hielt einen Finger an die Lippen.
Er hörte gedämpfte Rufe, einen Krach, als wäre ein riesiger Gegenstand gefallen, und – natürlich – die Trommeln. Dann folgte ein neuerliches Krachen, diesmal melodischer: das Geräusch von splitterndem Glas.
»Herrje«, flüsterte Jake und rückte näher zu dem Revolvermann.
Dann kam das Geräusch, das Roland von ganzem Herzen nicht hören wollte: das schnelle, trockene Knattern von Gewehrfeuer, gefolgt von einem lauten Knall – eindeutig eine Art Explosion. Der Knall rollte über die Ebene auf sie zu wie eine unsichtbare Bowlingkugel. Danach sanken Rufe, Pochen und die berstenden Geräusche rasch unter die Geräuschebene der Trommeln, und als die Trommeln selbst wenig später wie gewohnt unvermittelt verstummten, herrschte wieder Ruhe in der Stadt. Aber nun war der Stille eine unbehagliche, abwartende Qualität eigen.
Roland legte Jake einen Arm um die Schultern. »Es ist noch nicht zu spät für einen Umweg«, sagte er.
Jake sah zu ihm auf. »Das können wir nicht.«
»Wegen dem Zug?«
Jake nickte und intonierte: »Blaine ist die Pein, doch der Zug muß sein. Und die Stadt ist die einzige Möglichkeit, wo wir zusteigen können.«
Roland betrachtete Jake nachdenklich. »Warum sagst du: muß sein? Ist es Ka? Du mußt nämlich wissen, Jake, du weißt noch nicht sehr viel über Ka – es ist ein Thema, das Menschen ihr ganzes Leben lang studieren.«
»Ich weiß nicht, ob es Ka ist oder nicht, aber ich weiß, wir können nicht ohne Schutz durch das wüste Land, und das
Weitere Kostenlose Bücher