Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Mono, verschwunden zu sein – und die Pilger schienen ohne Hilfsmittel oder Untersatz durch die Straßen der Stadt zu rasen.
Susannah und Eddie umklammerten einander wie kleine Kinder vor einem zum Angriff geduckten Tier. Oy bellte und versuchte, sich in Jakes Hemd zu verkriechen. Jake bemerkte es kaum; er umklammerte die Lehnen seines Sitzes und sah von einer Seite zur anderen; seine Augen waren staunend aufgerissen. Sein erster Schrecken wich freudigem Entzücken.
Das Mobiliar war immer noch zu sehen, ebenso die Bar, das Cembalo und die Eisskulptur, die Blaine als Partygag geschaffen hatte, aber jetzt schien diese Wohnzimmeranordnung zwanzig Meter über der regennassen Innenstadt von Lud zu schweben. Fünf Schritte links von Jake schwebten Eddie und Susannah auf einem Sofa; drei Schritte rechts saß Roland auf einem pastellblauen Drehstuhl, hatte die staubigen, mitgenommenen Cowboystiefel auf nichts stehen und schwebte so gelassen über das abfallübersäte, urbane wüste Land unten.
Jake konnte den Teppichboden unter den Füßen spüren, aber seine Augen bestanden darauf, daß weder der Teppich noch der Boden darunter da waren. Er blickte über die Schulter zurück und sah den dunklen Spalt in der Mauer der Krippe langsam in der Ferne entschwinden.
»Eddie! Susannah! Seht mal!«
Jake stand auf, hielt Oy in seinem Hemd und ging langsam über scheinbare Leere. Es erforderte große Willenskraft, den ersten Schritt zu machen, da seine Augen ihm sagten, es lag überhaupt nichts zwischen den schwebenden Inseln der Möbelstücke; aber als er in Bewegung war, machte es das unwiderlegbare Gefühl von Boden unter den Füßen leichter. Für Eddie und Susannah sah es aus, als würde der Junge durch die Luft wandeln, während die verfallenen, baufälligen Gebäude der Stadt auf beiden Seiten vorbeiglitten.
»Laß das sein, Junge«, sagte Eddie kläglich. »Wenn ich dir zusehe, kommt’s mir hoch.«
Jake hob Oy vorsichtig aus dem Hemd. »Schon gut«, sagte er und setzte ihn ab. »Siehst du?«
»Oy!« stimmte der Bumbler zu, aber als er einen Blick zwischen den Pfoten hindurch auf den Stadtpark geworfen hatte, der gerade unter ihnen vorbeiglitt, versuchte er, auf Jakes Füße zu springen und auf dessen Mokassins zu sitzen.
Jake sah geradeaus und erblickte den breiten grauen Strich der Schiene vor ihnen, die langsam, aber sicher zwischen den Gebäuden anstieg und im Regen verschwand. Er sah wieder nach unten und erblickte nur die Straße und schwebende Fetzen tiefhängender Wolken.
»Wie kommt es, daß ich die Schiene unter uns nicht sehen kann, Blaine?«
»DIE BILDER, DIE DU SIEHST, SIND COMPUTERERZEUGT«, antwortete Blaine. »DER COMPUTER LÖSCHT DIE SCHIENE AUS DEM BILD DES UNTEREN QUADRANTEN, DAMIT EINE SCHÖNERE AUSSICHT ENTSTEHT – UND UM DIE ILLUSION ZU VERSTÄRKEN, DASS DIE PASSAGIERE FLIEGEN.«
»Das ist unglaublich«, sagte Susannah. Ihre anfängliche Angst war verflogen, sie sah sich interessiert um. »Wie auf einem fliegenden Teppich. Ich rechne immer damit, daß mir der Wind das Haar aus dem Gesicht weht…«
»ICH KANN DIESE EMPFINDUNGEN ERZEUGEN, WENN IHR WOLLT«, sagte Blaine. »EBENSO EIN WENIG FEUCHTIGKEIT, DIE DEN DERZEITIGEN AUSSENBEDINGUNGEN ENTSPRICHT. DAS KÖNNTE ALLERDINGS EINEN KLEIDUNGSWECHSEL ERFORDERLICH MACHEN.«
»Schon gut, Blaine. Man kann eine Illusion auch zu weit treiben.«
Die Schiene führte durch eine Gruppe von Gebäuden, die Jake ein wenig an den Wall-Street-Bezirk in New York erinnerten. Als sie diesen hinter sich gebracht hatten, neigte sich die Schiene abwärts und verlief unter etwas hindurch, das wie eine Straßenüberführung aussah. Da sahen sie die purpurne Wolke und die Menschenmenge, die vor ihr die Flucht ergriff.
6
»Blaine, was ist das?« fragte Jake, aber er wußte es bereits.
Blaine lachte nur… sonst gab er keine Antwort.
Der purpurne Dunst schwebte aus Gittern in den Gehwegen und Fenstern verlassener Gebäude; aber der größte Teil schien aus den Kanaldeckeln zu kommen, durch die Schlitzer ihn in die Tunnel unter den Straßen geführt hatte. Die Eisendeckel waren von der Explosion weggeschleudert worden, die sie beim Betreten des Mono gespürt hatten. Sie sahen voll stummem Entsetzen, wie das blutergußfarbene Gas die Prachtstraßen entlangkroch und sich in den schmalen Nebenstraßen verteilte. Es trieb die Bewohner von Lud, denen noch etwas an ihrem Überleben gelegen war, wie Vieh vor sich her. Die meisten waren Pubes, was man an den
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