Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Das einzige, was mit diesem prunkvollen Zimmer nicht zu stimmen schien war die Tatsache, daß es nicht ein einziges Fenster hatte.
Das Pièce des résistance stand auf einem Sockel unter dem Lüster. Es war die Eisskulptur eines Revolvermannes mit einem Revolver in der linken Hand. Die rechte Hand hielt die Zügel eines Eispferdes, das mit gesenktem Kopf müde hinter ihm lief. Eddie konnte sehen, daß er nur drei Glieder an der rechten Hand hatte: die beiden letzten Finger und den Daumen.
Jake, Eddie und Susannah betrachteten fasziniert das kantige Gesicht unter dem gefrorenen Hut, als der Boden unter ihren Füßen sanft zu vibrieren anfing. Die Ähnlichkeit mit Roland war bemerkenswert.
»ICH MUSSTE LEIDER IN GROSSER EILE ARBEITEN«, sagte Blaine bescheiden. »GEFÄLLT ES EUCH?«
»Es ist absolut erstaunlich«, sagte Susannah.
»DANKE, SUSANNAH VON NEW YORK.«
Eddie testete die Polsterung eines Sofas mit der Hand. Es war unglaublich weich; als er es berührte, wollte er mindestens sechzehn Stunden schlafen. »Die Großen Alten sind echt stilvoll gereist, was?«
Blaine lachte wieder, und der schrille, nicht ganz normale Unterton dieses Lachens bewirkte, daß sie einander unbehaglich ansahen. »MACHT EUCH KEINE FALSCHEN VORSTELLUNGEN«, sagte Blaine. »DIES WAR DIE BARONSKABINE – ICH GLAUBE, IHR WÜRDET ERSTE KLASSE DAZU SAGEN.«
»Wo sind die anderen Wagen?«
Blaine reagierte nicht auf die Frage. Das Vibrieren der Motoren unter ihren Füßen wurde immer schneller. Susannah mußte daran denken, wie Piloten die Turbinen hochjagten, ehe sie die Startbahn von LaGuardia oder Idlewild entlangrasten. »BITTE NEHMT PLATZ, MEINE INTERESSANTEN NEUEN FREUNDE.«
Jake ließ sich auf einen der Sitze fallen. Oy sprang ihm sofort auf den Schoß. Roland nahm den Sessel neben ihm und warf der Eisskulptur einen Blick zu. Der Lauf des Revolvers tropfte schon in das flache Porzellanbecken, in dem die Skulptur stand.
Eddie setzte sich mit Susannah auf ein Sofa. Es erwies sich als so bequem, wie er es erwartet hatte. »Wo genau fahren wir hin, Blaine?«
Blaine antwortete in dem geduldigen Tonfall von jemand, dem klar ist, er hat es mit einem Minderbemittelten zu tun und muß Zugeständnisse machen. »AUF DEM PFAD DES BALKENS. JEDENFALLS SOWEIT MEINE SCHIENEN REICHEN.«
»Zum Dunklen Turm?« fragte Roland. Susannah wurde klar, daß Roland eben zum erstenmal zu dem geschwätzigen Geist in der Maschine unter Lud gesprochen hatte.
»Nur bis Topeka«, sagte Jake mit leiser Stimme.
»JA«, sagte Blaine. »TOPEKA IST DER NAME MEINER ENDSTATION, ABER ES ÜBERRASCHT MICH, DASS DU IHN KENNST.«
Wo du soviel über unsere Welt weißt, dachte Jake, wie kommt es da, daß dir unbekannt ist, daß eine Frau ein Buch über dich geschrieben hat, Blaine? Liegt es am geänderten Namen? Konnte etwas so Einfaches eine komplizierte Maschine wie dich dazu bringen, daß du deine eigene Biographie übersehen hast? Und was ist mit Beryl Evans, der Frau, die angeblich Charlie Tschuff-Tschuff geschrieben hat? Hast du sie gekannt, Blaine? Und wo ist sie jetzt?
Gute Fragen… aber Jake dachte irgendwie, dies wäre nicht der geeignete Zeitpunkt, sie zu stellen.
Das Vibrieren der Slo-Trans-Motoren wurde immer stärker. Ein leises Poltern – längst nicht so stark wie die Explosion, die die Krippe, als sie eingestiegen waren, erschüttert hatte – lief durch den Boden. Susannahs Gesicht nahm einen erschrockenen Ausdruck an. »O Scheiße! Eddie! Mein Rollstuhl! Er ist noch draußen!«
Eddie legte ihr einen Arm um die Schultern. »Jetzt ist es zu spät, Baby«, sagte er, während Blaine, der Mono, sich in Bewegung setzte und zum erstenmal seit zehn Jahren auf das Tor der Krippe zufuhr… zum letztenmal in seiner langen, langen Geschichte.
5
»DIE BARONSKABINE VERFÜGT ÜBER EIN BESONDERS EINDRUCKSVOLLES SICHTMODUL«, sagte Blaine. »MÖCHTET IHR, DASS ICH ES AKTIVIERE?«
Jake sah Roland an, der die Achseln zuckte und nickte.
»Ja, bitte«, sagte Jake.
Was dann geschah, war so atemberaubend, daß alle verstummten… Roland, der wenig von Technologie wußte, aber sein ganzes Leben lang mit Magie auf vertrautem Fuß gestanden hatte, blieb von allen am unbeeindrucktesten. Es war nicht so, daß ein Fenster in der gekrümmten Wand des Abteils erschien; die gesamte Kabine – Boden und Decke ebenso wie Wände – wurde milchig, wurde durchscheinend, wurde durchsichtig und verschwand dann völlig. Innerhalb von fünf Sekunden schien Blaine, der
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