Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
festgestellt haben würde, die Welt hatte sich weiterbewegt.
2
An einem Spätnachmittag, drei Tage nachdem Roy Depape die Stadt Ritzy verlassen und mit seinem Pferd den Rückweg nach Hambry angetreten hatte, ritten Roland, Cuthbert und Alain in nordwestlicher Richtung von der Stadt weg, zuerst den langen Hang der Schräge hinunter, dann in das freie Land, das die Leute von Hambry als Böses Gras bezeichneten, dann in das trockene wüste Land. Hinter ihnen, im offenen Gelände deutlich zu erkennen, lagen verfallene und erodierte Felsen. In deren Mitte befand sich eine dunkle Spalte, die halbwegs an eine Vagina gemahnte. Die Ränder der Spalte waren so zerklüftet, dass man meinen konnte, ein erboster Gott hätte sie mit einem Beil in die Wirklichkeit hineingeschlagen.
Die Entfernung zwischen dem Ende der Schräge und den Felsen betrug rund sechs Meilen. Nach drei Vierteln des Weges kamen sie an der einzigen geografischen Markierung des Flachlands vorbei: einer emporragenden Felsnadel, die wie ein am ersten Gelenk angewinkelter Finger aussah. Darunter befand sich ein kleiner, bumerangförmiger Grünstreifen, und als Cuthbert einen hallenden Schrei ausstieß, um zu hören, wie seine Stimme von den Felsen vor ihnen zurückgeworfen wurde, stürmte ein Rudel schwatzender Billy-Bumbler aus dem Grünstreifen und rannte zurück nach Südosten zur Schräge.
»Das ist der Hanging Rock«, sagte Roland. »An seinem Fuß liegt eine Quelle – die einzige in dieser Gegend, wie's heißt.«
Mehr wurde bei diesem Ausritt nicht gesprochen, aber hinter Rolands Rücken wechselten Cuthbert und Alain einen unverwechselbaren Blick der Erleichterung. In den vergangenen drei Wochen hatten sie mehr oder weniger auf der Stelle getreten, während sich der Sommer rings um sie herum entfaltet hatte. Es war gut und schön für Roland, ihnen zu sagen, dass sie warten mussten, dass sie den unwichtigen Dingen größte Aufmerksamkeit widmen und die wichtigen nur aus den Augenwinkeln wahrnehmen durften, aber keiner von ihnen beiden traute der verträumten, entrückten Aura, die Roland neuerdings wie seine eigene spezielle Version von Clay Reynolds’ Mantel einhüllte. Sie unterhielten sich untereinander nicht darüber; es war nicht nötig. Beide wussten, wenn Roland dem hübschen Mädchen den Hof machte, das Bürgermeister Thorin als sein Feinsliebchen haben wollte (und von wem sonst hätte das blonde Haar stammen können?), würden sie in böse Schwierigkeiten geraten. Aber Roland führte keinen Balztanz auf, sie fanden keine blonden Haare mehr an seinem Kragen, und heute Abend schien er wieder mehr bei sich zu sein, so als hätte er diesen Mantel der Zerstreutheit abgelegt. Vielleicht leider nur vorübergehend. Für immer, wenn sie Glück hatten. Sie konnten nur abwarten. Am Ende würde das Ka es verraten, wie immer.
Etwa eine Meile von den Felsen entfernt ließ der starke Wind vom Meer, der ihnen den ganzen Ritt in den Rücken geblasen hatte, plötzlich nach, und sie hörten das leise, atonale Heulen aus der Schlucht des Eyebolt Canyon. Alain blieb stehen und verzog das Gesicht wie ein Mann, der in eine über die Maßen saure Frucht gebissen hatte. Er konnte nur an eine Hand voll Kieselsteine denken, die von einer kräftigen Faust zusammengedrückt und zermalmt wurden. Geier kreisten über der Schlucht, als hätte das Geräusch sie angezogen.
»Dem Wachposten gefällt es hier nicht, Will«, sagte Cuthbert und klopfte mit den Knöcheln auf den Krähenschädel. »Und mir auch nicht besonders. Weshalb sind wir eigentlich hier?«
»Um zu zählen«, sagte Roland. »Wir sind geschickt worden, um alles zu zählen und zu sehen, und das hier ist etwas, was wir zählen und sehen sollten.«
»Aha, aye«, sagte Cuthbert. Er hielt sein Pferd mühsam zurück; das leise, knirschende Wimmern der Schwachstelle hatte es unruhig werden lassen. »Sechzehnhundertundvierzehn Fischernetze, siebenhundertundzehn kleine Boote, zweihundertundvierzehn große Boote, siebzig Ochsen, die niemand offen zugeben will, und nördlich der Stadt eine Schwachstelle. Was immer zum Teufel das sein mag.«
»Wir werden es herausfinden«, sagte Roland.
Sie ritten in das Geräusch hinein, und obwohl es keinem gefiel, machte niemand den Vorschlag, wieder umzukehren. Sie hatten den weiten Weg zurückgelegt, und Roland hatte Recht – es war ihre Aufgabe. Außerdem waren sie neugierig.
Der Eingang des Canyons war weitgehend mit Ästen versperrt, so wie Susan es Roland
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