Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
erzählt hatte. Im Herbst würde es wahrscheinlich weitgehend trocken sein, aber jetzt trugen die aufgeschichteten Äste noch so viel Laub, dass man kaum in das Tal hineinsehen konnte. Ein Pfad führte mitten durch den Haufen der Äste, aber er war zu schmal für die Pferde (die sich wahrscheinlich ohnehin geweigert hätten, dort hindurchzugehen), und in dem düsteren Licht konnte Roland kaum etwas erkennen.
»Gehen wir rein?«, sagte Cuthbert. »Ich möchte für das Protokoll festhalten, dass ich dagegen bin, auch wenn ich keine Meuterei vom Zaun brechen will.«
Roland hatte nicht die Absicht, sie durch die Äste zum Ursprung des Geräuschs zu führen. Zumal er nur eine ungefähre Vorstellung davon hatte, was eine Schwachstelle überhaupt war. Er hatte im Laufe der vergangenen Wochen ein paar Fragen gestellt, aber keine brauchbaren Antworten erhalten. »Ich würde mich davon fern halten«, hatte Sheriff Averys Rat gelautet. Bis jetzt waren die besten Auskünfte immer noch die, die er von Susan erhalten hatte, und zwar in jener Nacht, als sie sich kennen lernten.
»Beruhige dich, Bert. Wir gehen nicht rein.«
»Gut«, sagte Alain leise, worauf Roland lächelte.
Auf der Westseite des Canyons führte ein Pfad hinauf, steil und schmal, aber passierbar, wenn man vorsichtig war. Sie gingen in einer Reihe, mussten einmal anhalten, um eine Steinlawine beiseite zu räumen, indem sie gesplitterte Schieferbrocken und Hornblende in den heulenden Abgrund zu ihrer Rechten warfen. Als das geschehen war und sie gerade weiterklettern wollten, schwang sich ein großer Vogel – möglicherweise ein Wald- oder Präriehuhn – mit einem explosionsartigen Flügelschlag über den Rand des Abgrunds. Roland griff nach seiner Waffe und sah, dass Cuthbert und Alain dasselbe taten. Ziemlich komisch, wenn man bedachte, dass ihre Feuerwaffen in schützendes Ölpapier gewickelt unter den Bodendielen im Schlafhaus der Bar K versteckt waren.
Sie sahen sich an, sagten nichts (außer vielleicht mit den Augen, die Bände sprachen) und ritten weiter. Roland stellte fest, dass sich die Auswirkung der Schwachstelle in der Nähe noch steigerte – es war ein Geräusch, an das man sich nicht gewöhnen konnte. Ganz im Gegenteil: Je länger man sich in der unmittelbaren Umgebung des Eyebolt Canyon aufhielt, desto mehr schabte einem das Geräusch das Gehirn weg. Es wirkte auf die Zähne ebenso wie auf die Ohren; es vibrierte in dem Nervenknoten unterhalb des Brustbeins und schien das feuchte und empfindliche Gewebe hinter den Augen zu zerfressen. Aber am meisten drang es einem in den Kopf ein und sagte einem, dass alles, wovor man je Angst gehabt hatte, gleich hinter der nächsten Wegbiegung oder hinter jenem Haufen umgestürzter Felsbrocken lauerte, wo es nur darauf wartete, aus seinem Versteck gekrochen zu kommen, um einen zu schnappen.
Als sie den flachen und unfruchtbaren Boden am höchsten Punkt des Pfades erreicht hatten und der freie Himmel sich wieder über ihnen spannte, ging es etwas besser, aber da war das Licht schon fast erloschen, und als sie abstiegen und zum bröckelnden Rand des Canyons gingen, konnten sie außer Schatten kaum noch etwas erkennen.
»Nützt nichts«, sagte Cuthbert verdrossen. »Wir hätten früher aufbrechen sollen, Roland… Will, meine ich. Was sind wir doch für Dummköpfe!«
»Hier draußen kannst du mich Roland nennen, wenn du möchtest. Und wir werden sehen, was wir sehen wollten, und zählen, was wir zählen wollten – eine Schwachstelle, genau wie du gesagt hast. Warte einfach ab.«
Sie warteten, und keine zwanzig Minuten später ging der Hausierermond über dem Horizont auf – ein tadelloser Sommermond, riesig und orangefarben. Er schwamm im dunkelvioletten Meer des Himmels wie ein abstürzender Planet. Auf seinem Antlitz konnte man klar und deutlich den Hausierer erkennen, der mit seinem Sack voll schreiender Seelen aus Nones kam. Eine bucklige Gestalt aus verschwommenen Schatten, die deutlich sichtbar einen Rucksack über einer gekrümmten Schulter trug. Hinter ihr schien das orangerote Licht wie das Höllenfeuer zu lodern.
»Bah«, sagte Cuthbert. »Das ist ein Anblick, den man sich bei diesem Geräusch von da unten lieber ersparen sollte.«
Und doch blieben sie an Ort und Stelle (und hielten ihre Pferde fest, die immer wieder an ihren Zügeln zerrten, als wollten sie darauf hinweisen, dass sie diesen Ort schon längst verlassen haben sollten), und der Mond stieg zum Himmel auf, während er etwas
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