Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
nichts anderes tun, als morgens aufzuwachen. »Bestimmt.«
»Ach, aye«, sagte er und entriss ihr die kleine Börse fast. Er konnte spüren, wie ein albernes Grinsen sein Gesicht verzerrte. »Jetzt, wo Sie es erwähnen, Sai…«
»Susan.« Die Augen über ihrem Lächeln waren ernst und wachsam. »Lasst mich Susan für Euch sein, bitte.«
»Mit Vergnügen. Ich erflehe Ihre Verzeihung, Susan, es ist nur so, dass mein Verstand und mein Gedächtnis, weil Santag ist, einander die Hände gereicht haben und gemeinsam in Urlaub gegangen sind – stiften gegangen, könnte man sagen –, sodass ich vorübergehend kein Hirn im Kopf hatte.«
Möglicherweise hätte er auf diese Weise noch eine Stunde weitergeplappert (was in ähnlichen Fällen schon vorgekommen war; das konnten Roland und Alain bezeugen), aber sie brachte ihn mit der unbekümmerten Strenge einer älteren Schwester zum Schweigen. »Ich kann mir gut vorstellen, dass Ihr keine Macht über Euren Verstand habt, Mr. Heath – oder die Zunge, die darunter hängt –, aber vielleicht achtet Ihr in Zukunft besser auf Eure Börse. Guten Tag.« Sie verschwand, bevor er noch ein weiteres Wort herausbringen konnte.
5
Bert fand Roland dort, wo dieser neuerdings häufig saß: draußen an einem Abschnitt der Schräge, die von vielen Einheimischen als »Blick über die Stadt« bezeichnet wurde. Man hatte von dieser einen hübschen Blick auf Hambry, das seinen Santagnachmittag in blauem Dunst verträumte, aber Cuthbert bezweifelte sehr, dass es der Blick auf Hambry war, der seinen ältesten Freund immer wieder hierher zog. Er glaubte, der wahrscheinlichere Grund wäre wohl der Blick auf das Haus der Delgados.
Heute war Roland mit Alain dort, und keiner sprach ein Wort. Cuthbert hatte keine Mühe damit, die Tatsache zu akzeptieren, dass Leute längere Zeiträume zusammen verbringen konnten, ohne miteinander zu reden, aber er glaubte nicht, dass er es je verstehen konnte.
Er ritt im Galopp zu ihnen, griff in sein Hemd und holte die corvette heraus. »Von Susan Delgado. Sie hat es mir auf dem Obermarkt gegeben. Sie ist wunderschön, aber sie ist auch listig wie eine Schlange. Ich sage dies mit der allergrößten Bewunderung.«
Rolands Gesicht füllte sich mit Licht und Leben. Als Cuthbert ihm die corvette zuwarf, fing er sie mit einer Hand auf und zog sofort die Spitzenkordel mit den Zähnen auf. Im Inneren, wo ein Reisender seine knappen Bargeldreserven aufbewahrt haben würde, befand sich ein einziges zusammengefaltetes Stück Papier. Roland las es schnell, und dabei erlosch das Licht in seinen Augen, das Lächeln verschwand von seinen Lippen.
»Was steht drin?«, fragte Alain.
Roland gab ihm den Zettel und sah weiter über die Schräge. Erst als er die durchaus echte Trostlosigkeit in den Augen seines Freundes sah, wurde Cuthbert völlig klar, welche Rolle Susan Delgado in Rolands Leben spielte – und damit in ihrer aller Leben.
Alain gab ihm den Zettel. Es war nur eine einzige Zeile darauf, zwei Sätze:
Es ist besser, wir sehen uns nicht. Tut mir Leid.
Cuthbert las die Nachricht zweimal, als könnte sie sich beim erneuten Lesen ändern, und gab sie dann Roland zurück. Roland steckte den Zettel in die corvette, knüpfte die Kordel zu und verstaute die kleine Börse in seinem Hemd.
Cuthbert hasste Schweigen mehr als Gefahr (für ihn war es eine Gefahr), aber jeder Anfang eines Gesprächs, der ihm in den Sinn kam, schien angesichts der Miene seines Freundes unreif und gefühllos zu sein. Es war, als wäre Roland vergiftet worden. Cuthbert war angeekelt bei dem Gedanken, dass dieses reizende junge Mädchen mit dem langen und knochigen Bürgermeister von Hambry Hüftstoßen trieb, aber Rolands Gesichtsausdruck weckte noch stärkere Gefühle. Dafür konnte er sie hassen.
Schließlich ergriff Alain fast schüchtern das Wort. »Und jetzt, Roland? Sollen wir unsere Suche draußen auf dem Ölfeld ohne sie durchführen?«
Dafür bewunderte Cuthbert ihn. Nach einer flüchtigen Begegnung betrachteten viele Leute Alain Johns als einen Dummkopf. Das war aber weit von der Wahrheit entfernt. Gerade hatte er auf eine diplomatische Weise, zu der Cuthbert nie fähig gewesen wäre, darauf hingewiesen, dass Rolands unglückliche erste Liebe nichts an der Verantwortung änderte, die sie trugen.
Und Roland reagierte, richtete sich vom Sattelknauf auf und setzte sich gerade hin. Das kräftige goldene Licht des Sommernachmittags malte schroffe Kontraste in sein Gesicht, und
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