Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
sie vor Frustration leise auf, ohne es selbst zu merken, und ihr Verlangen, ihn wieder zu küssen und seine Hand auf ihrer Brust zu spüren, machte jede Bemühung, klar und vernünftig zu denken, wieder zunichte.
Sie war nie ein religiöses Mädchen gewesen, setzte wenig Vertrauen in die blassen Götter von Mittwelt, also versuchte sie schließlich, als die Sonne untergegangen war und der Himmel darüber sich von Rot zu Purpur verfärbte, wenigstens zu ihrem Vater zu beten. Und bekam eine Antwort; ob von ihm oder aus dem eigenen Herzen, vermochte sie jedoch nicht zu sagen.
Lass das Ka sich um sich selbst kümmern, sagte die Stimme in ihrem Kopf. Das wird es so oder so; wie immer. Wenn das Ka sich über deine Ehre hinwegsetzt, so sei es; bis dahin, Susan, bist du die Einzige, die es betrifft. Lass das Ka in Ruhe und halte dich an dein Versprechen, so schwer es dir auch fallen mag.
»Na gut«, sagte sie. In ihrer derzeitigen Verfassung stellte sie fest, dass jede Entscheidung – auch wenn diese Entscheidung sie um die Möglichkeit brachte, Will wiederzusehen – eine Erleichterung war. »Ich werde mein Versprechen in Ehren halten. Das Ka kann sich um sich selbst kümmern.«
In der zunehmenden Dunkelheit schnalzte sie Felicia mit der Zunge zu und machte sich wieder auf den Heimweg.
4
Der nächste Tag war Santag, der traditionelle freie Tag der Cowboys. Rolands kleine Gruppe machte an diesem Tag ebenfalls frei. »Es ist nur recht und billig, dass wir das auch tun«, sagte Cuthbert, »wo wir sowieso keine Ahnung haben, was wir überhaupt tun sollen.«
An diesem besonderen Santag – ihrem sechsten, seit sie nach Hambry gekommen waren – ging Cuthbert über den Obermarkt (der Untermarkt war im Großen und Ganzen billiger, roch für seinen Geschmack aber zu sehr nach Fisch), betrachtete bunte serapes und bemühte sich, nicht zu weinen. Auch seine Mutter besaß nämlich einen solchen serape, eines ihrer Lieblingskleidungsstücke, und die Vorstellung, wie sie damit ausritt, sodass er über ihre Schultern wehte, erfüllte ihn mit einem starken, fast übermächtigen Heimweh. »Arthur Heath«, Rolands Ka-Mai, vermisste seine Mama so sehr, dass ihm die Augen feucht wurden! Das war ein Witz, der… nun, der eines Cuthbert Allgood würdig war.
Während er so dastand und mit auf dem Rücken verschränkten Händen wie ein Mäzen in einer Kunstgalerie die serapes und einen Ständer mit dolina -Decken betrachtete (und währenddessen die ganze Zeit über Tränen wegblinzelte), spürte er ein leichtes Klopfen auf der Schulter. Er drehte sich um, und da stand das Mädchen mit den blonden Haaren.
Es überraschte Cuthbert nicht, dass Roland sich in sie verknallt hatte. Selbst in Jeans und einem Baumwollhemd wirkte sie atemberaubend. Das Haar hatte sie mit einer Reihe derber Wildlederschnallen nach hinten gesteckt, und sie hatte die strahlendsten grauen Augen, die Cuthbert je gesehen hatte. Cuthbert hielt es für ein Wunder, dass sich Roland überhaupt auf die anderen Aspekte seines Lebens konzentrieren konnte, und sei es nur das Zähneputzen. Auf jeden Fall hatte sie ein Heilmittel für Cuthbert dabei; sentimentale Gedanken an seine Mutter waren auf der Stelle wie weggeblasen.
»Sai«, sagte er. Mehr brachte er nicht heraus, zumindest für den Anfang nicht.
Sie nickte und hielt ihm etwas hin, was die Leute von Mejis eine corvette nannten – »kleines Päckchen« lautete die wörtliche Übersetzung; »kleine Börse« die gebräuchliche. Diese kleinen Lederbeutelchen, groß genug für ein paar Münzen, aber mehr nicht, wurden häufiger von Damen als von Herren getragen, aber das war kein strenges Gebot der Mode.
»Ihr habt das fallen lassen, mein Freund«, sagte sie.
»Nay, danke-sai.« Diese hätte durchaus Besitz eines Mannes sein können – schlichtes schwarzes Leder, ohne schmückenden Zierrat –, aber er hatte sie noch nie zuvor gesehen. Er hatte noch nie eine corvette besessen, was das betraf.
»Es gehört Euch«, sagte sie, und ihre Augen blickten jetzt so eindringlich, dass sich der Blick auf seiner Haut ganz heiß anfühlte. Er hätte sofort begreifen müssen, aber ihr unerwartetes Auftauchen hatte ihn aus der Fassung gebracht. Ebenso, wie er zugeben musste, ihre Klugheit. Irgendwie rechnete man nicht damit, dass ein solch wunderschönes Mädchen auch klug sein konnte; es gab keine Regel, derzufolge wunderschöne Mädchen klug sein mussten. Soweit Bert das sagen konnte, mussten wunderschöne Mädchen
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